Philosophie der Physik by Sieroka Norman

Philosophie der Physik by Sieroka Norman

Autor:Sieroka, Norman
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406667954
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2014-10-29T16:00:00+00:00


Auswahlkriterien für Theorien: Objektivität statt Wahrheit

Der oben beschriebene Verlust der Anschaulichkeit ging einher mit einem Verlust der Eindeutigkeit. Solange man glaubte, Theorien noch im direkten Anschluss an einzelne Phänomene bilden zu können, waren sie in der Regel auch eindeutig bestimmt. Umso mehr aber die mathematische Formalisierung, die sich auf ein ganzes Heer von Beobachtungen zugleich bezog, in den Vordergrund trat, umso eher gab es nun konkurrierende Theorien oder Ansätze, zwischen denen irgendwie mittels sinnvoller Kriterien entschieden werden musste.

Früh erkannt wurde diese Problematik vom bereits mehrfach erwähnten Heinrich Hertz. In einer Arbeit von 1892 diskutiert er sie zunächst im Kontext der Elektrodynamik, indem er drei ihrer «Darstellungen», wie er es nennt, miteinander vergleicht. Es sind dies die Beschreibungen und Interpretationen elektromagnetischer Phänomene, wie sie von (i) Maxwell, (ii) Helmholtz und (iii) Hertz selbst vertreten wurden. Diese Darstellungen unterscheiden sich stark, wenn es um die Interpretation von einzelnen Begriffen wie etwa «Polarisation» geht und auch um das allgemeinere Verständnis der Natur von Nah- und Fernwirkung. Worin sich allerdings alle drei Darstellungen treffen, das sind die Maxwell-Gleichungen – auch wenn diese (bzw. ihre Konsequenzen) verschieden interpretiert werden. Und so kommt Hertz zu der Annahme, die Theorie der Elektrodynamik sei identisch mit diesen Gleichungen selbst. Dieser sozusagen gefestigte und invariante Kern der verschiedenen Darstellungen markiere das objektiv Gültige, während die variablen Bestandteile der jeweiligen Interpretationen zwar der individuellen Veranschaulichung dienen mögen, aber mitnichten etwas Objektives sind.

Mehr noch: Versuche, sich Phänomene wie etwa elektromagnetische Wellen zu veranschaulichen, indem man sie entlang mechanischer Modelle interpretiert, sollten sich ja sogar als irreführend erweisen. Genau deshalb sind Vergleiche verschiedener Darstellungen auch so wichtig. Sie erlauben es, nicht-objektive Theoriebestandteile leichter aufzuspüren und abzutrennen.

In diesem Zusammenhang ist auch die Überschrift dieses Abschnitts «Objektivität statt Wahrheit» zu verstehen. Es geht bei der Aufstellung einer Theorie nicht darum, die physikalischen Gegenstände so, wie sie «wirklich» oder «wahrhaftig» sind, anschaulich und eins zu eins abzubilden. Es geht vielmehr darum, dasjenige ausfindig zu machen, was über verschiedene Darstellungen dieser Gegenstände hinweg unverändert bleibt, also diejenigen Verhältnisse, die sozusagen aus jeder Perspektive gültig erscheinen und in eben diesem Sinne «objektiv» sind. Oder, um es etwas pointierter auszudrücken: Theorien sind die Transformationsinvarianten verschiedener Darstellungen der Zustände und Dynamiken eines physikalischen Phänomenbereichs.

In seinem Buch Prinzipien der Mechanik widmet sich Hertz 1894 nochmals der Problematik von Theorieauswahl und Objektivität, nun allerdings in etwas systematischerer Weise und im Kontext der klassischen Mechanik statt der Elektrodynamik. Erneut vergleicht er drei Darstellungen – er nennt dies nun «Bilder» – miteinander: erstens die Newtonsche Mechanik mit ihren Grundbegriffen von Raum, Zeit, Masse und Kraft; zweitens die damals prominente Energetik, die aufgrund des erst unlängst etablierten Energiebegriffs ebendiesen anstelle des Kraftbegriffs als Grundbegriff der Physik verstanden wissen wollte; und drittens eine von Hertz selbst entworfene Mechanik, die mit nur drei Grundbegriffen – nämlich Raum, Zeit und Masse – auskommen sollte.

Wie schon im analogen Fall der Elektrodynamik werden auch hier sämtliche Darstellungen («Bilder») den empirischen Gegebenheiten gerecht. In allen drei Fällen lassen sich insbesondere die drei Newtonschen Gesetze einführen bzw. herleiten. Alle zusätzlichen interpretatorischen Leistungen der drei Darstellungen sind demgegenüber letztlich irrelevant.



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