Mord in Sunset Hall: Kriminalroman (German Edition) by Swann Leonie

Autor:Swann, Leonie [Swann, Leonie]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Goldmann Verlag
veröffentlicht: 2020-05-25T00:00:00+00:00

13

Heiße Milch

E s war einmal ein kleines Mädchen. Sie lebte in einem Haus nahe am Wald. Sie mochte Schleckeis und Seilhüpfen. Sie mochte Pflaumen und Sommer, Glasmurmeln und Versteckspielen. Sie mochte weiße Taschentücher und rote Lutscher und sogar den Geschmack von Hustensaft. Sie mochte Bücher und den abendlichen Gesang der Heuschrecken, und sie mochte es, andere Kinder in der Schule zu verpetzen.

Der Name des Mädchens war Clara.

Agnes hielt inne. War es wirklich eine gute Idee, Nathan die Geschichte ihrer Schulfreundin Clara zu erzählen? Wozu? Die Sache war eine Ewigkeit her, fast vergessen, und ausgerechnet jetzt kam sie wieder an die Oberfläche. Zu spät fiel Agnes ein, dass eine Geschichte, in der Kinder vorkamen, nicht unbedingt eine Kindergeschichte war. Ganz und gar nicht.

Doch es war zu spät. Nathan saß aufrecht und viel zu aufmerksam in seinem Bett, hellwach und großäugig.

»Weiter!«

Agnes ergriff die Flucht nach vorn und nahm sich vor, alles möglichst kindgerecht zu verpacken. Wenn sie es geschickt anstellte, schlief Nathan vielleicht ein, bevor sie zu den unangenehmen Stellen kamen .

Natürlich war Clara bei den anderen Kindern nicht besonders beliebt, und so saß sie in den Pausen meistens alleine da, meistens unter einem Baum, meistens mit einem Buch. Manchmal warfen Kinder Eicheln nach ihr oder Kiesel oder Hagebutten, aber sie tat immer so, als würde sie es gar nicht merken, und so wurde es den anderen Kindern schnell langweilig.

Man hätte meinen können, sie lebe ein einsames Leben, aber eine Freundin hatte sie dann doch. Keine echte Freundin vielleicht – aber eine Weggefährtin.

Mich, dachte Agnes. Mich.

Die Häuser der beiden lagen etwas außerhalb des Dorfes, nahe am Waldrand, und so gingen die beiden jeden Tag gemeinsam zur Schule.

Es war ein langer Weg, den sie zurücklegen mussten, denn damals gab es noch keinen Schulbus.

»Keinen Schulbus?«, rief Nathan ungläubig.

»Keinen Schulbus«, bestätigte Agnes mit einem Seufzen. Hätte es damals einen Schulbus gegeben, wäre vielleicht ihr ganzes Leben anders verlaufen!

Man hätte meinen können, dass zwei kleine Mädchen auf ihrem Weg zur Schule eine Menge zu besprechen gehabt hätten, aber dem war nicht so. Meistens gingen sie schweigend, nicht wirklich nebeneinanderher, aber nur ein paar Schritte voneinander entfernt. Stolperte eine von ihnen oder musste ihren Schuh schnüren, wartete die andere, beiläufig, fast wie zufällig. Rannte eine von ihnen, rannte die andere auch. Manchmal sprachen sie über das Wetter, über Hausaufgaben, ihr Spielzeug oder ihre Pläne für das Wochenende, aber Clara war eine Angeberin und Fabuliererin, und so war es in der Regel keine große Freude, sich mit ihr zu unterhalten.

So ging es eine ganze Weile, und so wäre es wohl noch weitergegangen, wenn nicht eines Tages ein neuer Lehrer an die Schule gekommen wäre. Er war anders als alle Lehrer, die die Kinder kannten. Er trug Jacken aus feinem Wollstoff wie ein Gutsbesitzer und eine kleine goldene Brille, und er roch immer gut, nicht nur nach Seife, sondern nach Leder und Zitronen.

Sein Name war Titus Coldwell. Seine Stimme klang sanft und melodisch, aber es war manchmal schwer zu verstehen, was genau er von ihnen wollte. In seinen Sätzen wimmelte es von Wörtern, die niemand kannte.

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