Massenwahntheorie und Friedenspoetik by Sarah McGaughey Elisa Risi Daniel Weidner Doren Wohlleben

Massenwahntheorie und Friedenspoetik by Sarah McGaughey Elisa Risi Daniel Weidner Doren Wohlleben

Autor:Sarah McGaughey, Elisa Risi, Daniel Weidner, Doren Wohlleben
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2023-07-24T08:30:59.877000+00:00


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Metaisierung und Hybridisierung: Zwei Verfahren Brochs

Wie schon erwähnt, setzt sich Broch in den 1930er Jahren intensiv mit der Schmitt’schen Politischen Theologie auseinander und argumentiert darüber hinaus über weite Strecken im Kontext der Politischen Theologie im weiten Sinne, beispielsweise wenn er über den Zusammenhang von Wertekrise und Reformation nachdenkt. Wichtiger als die systematische Komplexität und Differenziertheit dieser Entwürfe ist für unseren Kontext freilich die Frage, wie dieser Bezug formal gestaltet wird, also wie Brochs Essays auf diesen Diskurs zurückgreifen. Besonders deutlich wird dies in den Essays über den Zerfall der Werte aus dem dritten Band der Schlafwandler, die auf einen Aufsatz Logik einer zerfallenen Welt zurückgehen, den Broch ursprünglich Schmitt widmen wollte. Zugleich lassen sich an diesen Texten die erwähnten Tendenzen der ,Metaisierung‘ und ‚Hybridisierung‘ besonders gut herausarbeiten.

Die Essayreihe über den Zerfall der Werte versammelt die typischen Topoi und Argumente der zeitgenössischen Werttheorie und Kulturkritik: die Kritik an Stillosigkeit und Dekadenz der Gegenwart, die Klage um den Verlust eines einheitlichen Wertzentrums, die Beschwörung des Mittelalters und die Auseinandersetzung mit Renaissance und Reformation, die Androhung eines völligen Untergangs der Kultur in der Zukunft. In dieser Zusammenstellung wird nochmals die systematische Bedeutung des Religiös-Theologischen in diesem Diskurs deutlich, das nicht nur das historische Argument prägt, in dem Mittelalter und Reformation, Katholizismus, Protestantismus und Judentum die zentralen Akteure sind, sondern welches auch für die systematische Begrifflichkeit zentral ist, da nach Broch jede Werttheorie in einem höchsten Gut und damit in einer ,Werttheologie‘ gipfeln muss.

Allerdings verändert sich diese Werttheorie durch ihre Einfügung in den Roman in doppelter Weise: Sie wird zu einem reflexiven Moment, weil sie als Theorie dessen auftritt, wovon der Roman handelt; und sie wird zu einem Zitat, zu einer Stimme unter anderen. Die Essays erklären die Auflösung der alten Welt, von der der Roman erzählt, in abstrakter Weise und liefern damit die Theorie zur Fiktion. Das betrifft nicht nur das Dargestellte der Fiktion: Indem die Werttheorie auch eine ästhetische Dimension hat und immer auch eine Theorie der Auflösung eines einheitlichen Stils ist, lässt sich mit ihr auch die Auflösung der Darstellungsform nachvollziehen, die Brochs Romantrilogie auszeichnet. Wenn es zum Beispiel in der Theorie heißt, es gebe in der modernen Welt keine Stimme mehr, die das Gesamt der Welt zur Sprache bringen könne, so illustriert der Roman dies im dritten Teilband, indem er selbst polyphon und polyperspektivisch wird, also in verschiedene Handlungen und verschiedene Erzählerfiguren zerfällt.

Schon die Selbstanwendung der Theorie im Roman trägt Züge des Paradoxen, des mise en abyme, insofern der Roman immer schon seine eigene Reflexion enthält. Das wird verstärkt, indem sukzessiv enthüllt wird, dass die Theorie selbst nicht nur eine Reflexion über die Romanwelt ist, sondern auch eine Stimme in dieser: Offensichtlich teilen die Essays die Thematik der 1918 spielenden Erzählung, da sie über „diese Zeit“ und „die ungeheure Realität des Krieges“ nachdenken. Noch konkreter wird im zweiten Essay gefragt, ob „meine Müdigkeit und Reizbarkeit auf eine Unterernährung zurückzuführen sei“ und wenig später erfahren wir, dass die Reflexionen von „Bertrand Müller, Dr. Phil.“ (KW 1, 418, 436, 450) stammen, der das Kriegsende in einer Dachstube abwartet.



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