Mali oder das Ringen um Würde by Wiedemann Charlotte

Mali oder das Ringen um Würde by Wiedemann Charlotte

Autor:Wiedemann, Charlotte [Wiedemann, Charlotte]
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Pantheon
veröffentlicht: 2014-08-14T22:00:00+00:00


Modellversuch: Erstklässler lernen in ihrer Muttersprache.

6.

Wo Kinder Fremde werden

Über Schule, Sprache und Scham

Um zu erleben, wie Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, würde ich in Europa in die Schule an der nächsten Ecke gehen. Nicht so in Mali. Was das Natürlichste auf der Welt zu sein scheint, ist in Mali ein Experiment.

Es war acht Uhr morgens, ich saß in der ersten Klasse einer kleinen, ländlichen Schule. Die grünen Eisenlamellen vor den Fenstern waren zur Hälfte geschlossen; Streifen von Morgensonne fielen in den dämmrigen Raum. An den Wänden hingen Papierbahnen, bemalt und beschriftet, manche hingen an Wäscheleinen, schon ein wenig schief und zerrissen. Sie machten den Raum wohnlich, trotz seiner kargen Ausstattung. Boden und Wände waren aus nacktem Beton. Auf einer etwas unbeholfenen Skizze des menschlichen Körpers standen die Worte für die wichtigsten Körperteile. Und vorne in der Ecke, neben dem Eimer für das Tafelwischwasser, stand wie in jeder malischen Schule ein zugedeckter zweiter Eimer: Trinkwasser.

Das Wichtigste allerdings war nicht so wie in jeder beliebigen Schule: die Sprache. Auf den Papierbahnen an den Wänden, auf der Skizze des menschlichen Körpers war kein Wort Französisch zu lesen.

An drei Tischgruppen saßen dreiundzwanzig Kinder auf Holzbänken, fast zu gleichen Teilen Mädchen und Jungen. Die Schule gehörte nicht dem Staat, sondern der Dorfgemeinschaft; die ersten Gebäude hatten die Eltern ganz ohne Unterstützung selbst gebaut. Wir befanden uns nördlich des Städtchens Niono, in der Region Segou; hier wurde Reisanbau betrieben, auf bewässerten Feldern. Rund zweihundertdreißig Kinder besuchten nun die Schule, und von den sieben Lehrerinnen wurden einige vom Staat bezahlt.

In der Klasse, die ich besuchte, unterrichtete die junge Rektorin Aminata Dembélé. Im gedämpften Licht des Klassenzimmers leuchtete ihr zartgelbes Baumwollkleid, farblich passend trug sie dazu den Kopfputz der verheirateten Frau. Obwohl sie die Schulleiterin war, hatte Frau Dembélé mich mit einem kleinen Knicks begrüßt – so verlangte es die Tradition für Frauen auf dem Lande, wenn sie ihr Gegenüber für höher stehend halten. Eine Geste, die mich stets beschämt. Frau Dembélé hatte nicht studiert, sie hatte nur einen Kursus für Hilfslehrer besucht.

Die Klasse nahm die Wochentage durch, die meisten Kinder beteiligten sich wie wild, ständig waren die Finger oben, jede Frage löste einen Chor »nè, nè, nè!«, »ich, ich, ich!« aus. Einige blieben vor Aufregung gleich stehen, auf dem Rücken trugen sie einen Stoffbeutel, aus dem sie später ihre Schiefertafeln holten. Der Beutel hatte eine dünne Schnur, einige Kinder hatten sich die Schnur über Stirn und Ohren gelegt. So waren sie zur Schule gekommen, und in der Klasse hatten sie den Beutel anbehalten wie eine Schuluniform. Später schrieben sie auf ihre Tafeln mit winzigen Kreidestummeln, die man bei uns längst weggeworfen hätte.

Ein kleiner Junge schaute immerzu in die falsche Richtung, auf die anderen Kinder statt zur Lehrerin; er sei geistig behindert, hörte ich später. Der Junge saß schweigend da, sein Blick ruhte unverwandt auf seinen Altersgenossen, sie waren sein Bezug, auch wenn er dem, was sie taten, nicht folgen konnte. Niemand dachte daran, ihn hinauszuwerfen.

Es ging ungezwungen zu in dieser Klasse, der Unterricht war dicht am



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