Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie by Seyla Benhabib
Autor:Seyla Benhabib [Benhabib, Seyla]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105615973
Herausgeber: FISCHER Digital
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
5. Kapitel
Jürgen Habermas und das philosophische Erbe der Moderne
Von seinen frühen Aufsätzen an, »Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie«, »Naturrecht und Revolution« und »Hegels Kritik der Französischen Revolution«[165], war es ein Hauptvorsatz von Jürgen Habermas, die normative Tradition der Ethik und der Politik wiederzubeleben, um die Bedeutung von Herrschaftsfreiheit im Kontext einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation bzw. der spätkapitalistischen Gesellschaften aufzuzeigen. Habermas, der sich in dieser frühen Periode am Werk von Neoaristotelikern wie Hans-Georg Gadamer und Hannah Arendt orientierte, machte darauf aufmerksam, daß wir infolge des Übergangs vom aristotelischen Praxisbegriff zu einer an Marx sich ausrichtenden praktischen Philosophie den Blick für den besonderen Status normativer Fragestellungen verloren haben. Die von der Frankfurter Schule ausgearbeitete Kritik der »instrumentellen Vernunft« war darum ein aporetisches Projekt, weil sich mit der Zurückweisung der Identifikation von Befreiung und anwachsender technischer Naturbeherrschung außer der ästhetischen Vernunft keine andere Instanz menschlicher Rationalität mehr anzubieten schien, auf die man sich noch hätte berufen können. Demgegenüber vertritt Habermas die Auffassung, die Kritik der instrumentellen Vernunft brauche keine utopische Versöhnung mit der Natur in Anspruch zu nehmen[166]; die wahre Aufhebung der instrumentellen Vernunft rekurriere auf keine utopische, sondern auf die kommunikative Vernunft.[167]
Mit diesem Aspekt des Habermasschen Vorhabens möchte ich mich in den beiden folgenden Kapiteln beschäftigen. Genauer noch geht es mir um eine Untersuchung der Reformulierung der normativen Grundlagen von Kritik als Theorie des kommunikativen Handelns und als kommunikative Ethik. Sogleich aber sei der angesichts dieser Vorgehensweise mögliche Einwand zerstreut, daß meine Darstellungsmethode einer hegelischen Logik folge, wonach das zeitlich Spätere auch das am höchsten Entwickelte und das Zulängliche wäre. Im Gegenteil, diese Arbeit wurde – wie im Vorwort dargelegt – gerade in der Überzeugung geschrieben, daß die Wendung von Hegel zu Kant, wie sie sich bereits in Erkenntnis und Interesse andeutet, unzureichend fundiert gewesen sein könnte. Im ersten Teil dieses Buches untersuchte ich Hegels Kritik an den modernen Naturrechtstheorien und der Kantischen Ethik vor allem im Hinblick darauf, eine Antwort auf die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung gewisser Gesichtspunkte der Hegelschen Reflexionen für die Entwicklung einer normativen Begründung von Kritik zu finden. Wie ich im 2. Kapitel darlegte, können wir uns, welche Einsichten diesbezüglich auch immer von Hegel zu gewinnen sind, mit seinem Modell transsubjektiver Freiheit und dem korrespondierenden Expressivismus nicht mehr zufriedengeben. Die Frage lautet nun: in welcher Weise kann die Hegelsche Kritik im Rahmen eines kommunikativen Modells von Handlung und Rationalität fruchtbar gemacht werden?
Ich möchte dies in zwei Schritten erörtern. In diesem Kapitel gebe ich einen Überblick über bestimmte Aspekte von Habermas’ Begriff der kommunikativen Rationalität und über seine Verteidigung des kulturellen Erbes der Moderne; im folgenden Kapitel gehe ich auf das Programm einer kommunikativen Ethik ein.
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