Kognition - Grundwissen Philosophie by Reclam

Kognition - Grundwissen Philosophie by Reclam

Autor:Reclam
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Reclam
veröffentlicht: 2014-11-15T00:00:00+00:00


[80] 8. Die Rolle der Umwelt (II): Extended Cognition

Einigen Autoren geht die in Kapitel 7 beschriebene Art von Umweltabhängigkeit nicht weit genug. Wenn der Umwelt für unsere kognitiven Leistungen tatsächlich eine so zentrale Rolle zukommt, mit welchem Recht betrachten wir das Gehirn bzw. Gehirn und Körper dann noch als das alleinige materielle Substrat kognitiver Prozesse? Was qualifiziert Teile des Gehirns oder Körpers als Substrat »echter« kognitiver Prozesse, während die Umwelt nur eine zwar wichtige und womöglich unverzichtbare Ressource ist, die Kognition unterstützt und ermöglicht, selbst aber nicht als kognitiv gilt? Illustrieren lässt sich diese Überlegung am Beispiel des Alzheimerpatienten Otto, der sich statt auf sein physiologisches Gedächtnis auf ein Notizbuch verlässt, in dem er Wichtiges notiert und bei Bedarf nachschlägt. Angenommen, den Notizbucheinträgen käme in Ottos Leben und bei der Erklärung seines Verhaltens dieselbe Rolle zu wie neuronal codierten Gedächtnisinhalten bei gewöhnlichen Erwachsenen – wäre es dann nicht pure Willkür, wenn wir uns weigerten, sie ebenso als Realisierer seiner Erinnerungen, Überzeugungen usw. anzuerkennen, wie wir es bei den entsprechenden neuronalen Prozessen in unserem Fall ganz selbstverständlich tun?115

Überlegungen dieser Art führten seit Ende der 1990er-Jahre zu einer Reihe von Ansätzen, die sich in der einen oder anderen Form der folgenden Erweiterungsthese verschreiben: Kognitive Prozesse sind in dem Sinne »erweitert« (extended), dass sie zum Teil durch Prozesse in der Umwelt jenseits der körperlichen Grenzen eines Organismus realisiert sind. Die verschiedenen Spielarten dieser Erweiterungsthese, die aktuell unter Stichworten wie vehicle externalism, wide computationalism, locational externalism, [81] environmentalism, integrationism, radical embodiment oder active externalism diskutiert werden, decken dabei wiederum das gesamte Spektrum von klassisch computationalistischen bis hin zu dynamizistischen Ansätzen ab.116 Robert Wilsons wide computationalism zum Beispiel fasst kognitive Prozesse ganz traditionell als computationale Prozesse auf, räumt aber die Möglichkeit ein, dass sie statt interner Repräsentationen auch die entsprechenden Objekte in der Umwelt selbst zum Gegenstand haben; Anthony Chemeros These eines radical embodiment hingegen verschreibt sich einem Dynamizismus, für den Berechnungsprozesse und Repräsentationen keinerlei heuristische Bedeutung haben; und Clark liebäugelt mit einem hybriden Ansatz, der klassisch kognitivistische Ideen mit dezidiert dynamizistischen Elementen kombiniert.117

Inzwischen hat sich um die Erweiterungsthese und ihr Für und Wider eine kontroverse Debatte entwickelt, deren Eckpfeiler im Folgenden skizziert werden.

Zunächst einmal geht es bei der Erweiterungsthese nicht um den sogenannten semantischen Externalismus, wonach der Gehalt mentaler Zustände und sprachlicher Ausdrücke – das, was erinnert, geglaubt usw. oder mit einer Äußerung gemeint wird – keine intrinsische Eigenschaft eines Individuums ist, sondern auch von dessen natürlicher, sprachlicher oder sozialer Umwelt abhängt.118 Diese Form des Externalismus ist ein bloßer Gehaltsexternalismus: Mentalen Zuständen wird zwar ein durch externe Faktoren individuierter Gehalt zugeschrieben, ihre Realisierer oder Vehikel jedoch werden üblicherweise nach wie vor ausschließlich im Gehirn verortet. Bei der Erweiterungsthese hingegen geht es nicht um den Gehalt, sondern um dessen Träger, das heißt darum, dass sich, wie Susan Hurleys Rede von einem Vehikelexternalismus ausdrücklich hervorhebt, die Realisierer selbst in der Umwelt befinden: Kognitive Prozesse sollen teilweise durch hybride, sich über die Grenzen des Organismus hinaus erstreckende Prozesse konstituiert sein. Die externen Faktoren sind dabei verhaltenswirksam und



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