Kindeswohl by McEwan Ian

Kindeswohl by McEwan Ian

Autor:McEwan, Ian [McEwan, Ian]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257604528
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-08T23:00:00+00:00


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Mit Fakten ließ sich dieser Eindruck zwar nicht erhärten, aber im Spätsommer 2012 schienen ihr die Krisen und Zerwürfnisse zwischen Ehe- und anderen Paaren in Großbritannien anzuschwellen wie eine unberechenbare Springflut, die ganze Familien fortschwemmte, Besitztümer und hoffnungsvolle Träume auseinanderriss und jeden hinwegspülte, der keinen starken Überlebensinstinkt besaß. Liebesschwüre wurden widerrufen oder umformuliert, gute Gefährten wurden zu raffinierten Kriegern, die ohne Rücksicht auf die Kosten ihre Anwälte aufeinanderhetzten. Einst kaum beachtete Haushaltsgegenstände waren auf einmal heftig umkämpft, einst unbefangenes Vertrauen wurde durch sorgfältig formulierte »Abmachungen« ersetzt. Die Duellanten schrieben die Geschichte ihrer Ehe um: Von Anfang an war sie zum Scheitern verurteilt, die Liebe nichts als ein leerer Wahn. Und die Kinder? Figuren in einem Spiel, Faustpfand der Mütter, Druckmittel gegen die Väter, die sie finanziell oder emotional vernachlässigten; Vorwand für konkrete oder eingebildete oder zynisch konstruierte Missbrauchsanschuldigungen, meist von Seiten der Mütter, manchmal auch der Väter; verstörte Kinder, die im Wochenrhythmus gemeinsamer Sorgerechtsregelungen zwischen zwei Haushalten pendelten, wobei jeder verlegte Mantel, jedes verlegte [140] Federmäppchen zum Beweisstück wurde, das ein Anwalt dem anderen zeternd um die Ohren schlug; Kinder, dazu verdammt, ihre Väter nur ein- oder zweimal im Monat zu sehen; oder gar nicht mehr, falls die das Eisen schmiedeten, solange es heiß war, sich gleich in den Schmelzofen einer neuen Ehe stürzten und neue Nachkommen zeugten.

Und das Geld? Die neuen Währungen hießen Halbwahrheit und Sonderfallantrag. Gierige Ehemänner gegen gierige Ehefrauen, die wie kriegsführende Nationen vor dem endgültigen Rückzug aus den Ruinen rafften, was an Beute noch zu holen war. Männer, die ihr Vermögen auf Konten im Ausland versteckten, Frauen, die bis an ihr Lebensende in Saus und Braus leben wollten. Mütter, die trotz gerichtlicher Anordnung verhinderten, dass die Kinder ihre Väter sahen; Väter, die trotz gerichtlicher Anordnung die Alimente für ihre Kinder nicht zahlten. Männer, die Frau und Kinder schlugen, Frauen, boshaft und verlogen; er oder sie oder beide alkoholabhängig, drogensüchtig oder geistesgestört; und dann wieder die Kinder, gezwungen, sich um ein unfähiges Elternteil zu kümmern, Kinder, die tatsächlich missbraucht wurden, sexuell, seelisch, beides, und deren Aussagen auf Video in den Gerichtssaal gelangten. Und außerhalb von Fionas Reichweite, in nicht mehr familien-, sondern strafrechtlichen Fällen, Kinder, die gefoltert wurden, Kinder, die man verhungern ließ oder zu Tode prügelte, denen man in animistischen Ritualen böse Geister austrieb; brutale junge Stiefväter, die Säuglingen sämtliche Knochen brachen, während halb schwachsinnige Mütter einfach nur zusahen, und Drogen, und Alkohol, extrem verdreckte Wohnungen, gleichgültige Nachbarn, die für Kinderschreie selektiv taub waren, [141] und achtlose oder überforderte Sozialarbeiter, die nicht einschritten.

Die Arbeit ging dem Familiengericht nicht aus. Reines Pech bei der Zuteilung, dass Fiona es mit so vielen Ehekrisen zu tun bekam. Purer Zufall, dass sie selbst in einer steckte. In ihrem Rechtsgebiet schickte man Leute normalerweise nicht ins Gefängnis, dennoch malte sie sich in müßigen Momenten aus, wie sie alle diese Leute hinter Schloss und Riegel brachte, die auf Kosten ihrer Kinder eine jüngere Frau wollten, einen reicheren oder weniger langweiligen Mann, einen anderen Wohnort, frischen Sex, frische Liebe, eine neue Weltanschauung oder einen netten Neuanfang, ehe es zu spät war.



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