Im Namen der Freiheit by Onfray Michel
Autor:Onfray, Michel [Onfray, Michel]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: KNAUS
veröffentlicht: 2015-04-19T16:00:00+00:00
Es lebe der Ural!
Weil zu den hier aufgeworfenen Fragen keine Antworten, Notizen oder Erklärungen von Camus vorliegen, sollten wir keine Schlüsse ziehen. Doch wir können durchaus die Hypothese wagen, dass Camus’ gewisse Vorliebe für die Sowjetunion 1950 nicht mehr aktuell war. Im Krieg spielten die Sowjets während und nach Stalingrad eine wichtige Rolle bei der Niederschlagung des Nationalsozialismus in Europa. Camus hatte sich wohl vom politischen Realismus der UdSSR, ihrer falschen Geschichtsphilosophie und den vielen Menschenleben, welche dieser intellektuellen Blindheit geopfert wurden, nicht täuschen lassen. Er wusste, dass die Marxisten-Leninisten die Anarchisten, Sozialisten und Liberalen verurteilten, deportierten und unterdrückten. All das klagte er in seinen Artikeln an. Als Realist war er sich aber auch dessen bewusst, dass Sowjetrussland die Kollektivierung aus gesellschaftlichen Gründen betrieb und eine neue Zivilisation schaffen wollte.
Vielleicht warf er sich vor, dem Realismus damals Vorrang eingeräumt und seine bereits zu diesem Zeitpunkt hellsichtigen Beobachtungen zu den negativen Aspekten der Sowjetunion in einem ansonsten positiven Artikel auf wenige Zeilen beschränkt zu haben. Besagter Text stammt vom 10. April 1945, kurz nach dem Sieg Stalins an der Ostfront, und erinnert an die Erfahrungen aus der Russischen Revolution: 1917 habe Frankreich das von Lenin geführte Russland gezwungen, Truppen an den Grenzen zusammenzuziehen, und dann das Gerücht gestreut, im Land herrschten chaotische Zustände. Camus ging sogar so weit, den Hitler-Stalin-Pakt als eine logische Folge des Münchner Abkommens darzustellen – obwohl er ihn gleichzeitig als »moralische Tragödie« (II, S. 612) bezeichnete.
Die UdSSR habe das Recht auf die Sowjetisierung bestimmter osteuropäischer Länder wie etwa der Tschechoslowakei, denn Frankreich habe 1939 die falschen Entscheidungen getroffen und somit den Platz verloren, den es bislang traditionell in Europa innehatte. Camus betonte, er sei kein Kommunist, fügte aber hinzu, die UdSSR erschaffe eine junge, lebendige und kraftvolle neue Gesellschaft, die aus historischer Sicht notwendig sei, weil sich die alten Kulturen verjüngen müssten. Es folgt ein verblüffender Satz: »Aus dieser Perspektive (und es gibt viele andere) ist der Antisowjetismus eine ebenso große Dummheit, wie es eine systematische Opposition gegen England oder die Vereinigten Staaten wäre.« (II, S. 613). Das könnte auch von Sartre stammen.
Dass dieser Text im Band Actuelles abgedruckt wurde, gereicht Camus zur Ehre, denn im Juni 1950 arbeitete er bereits an Der Mensch in der Revolte! Bei der Arbeit an dem Sammelband hätte er derlei Artikel leicht unter den Teppich kehren und so manches aussparen oder umschreiben können, um ein geglättetes Bild von sich zu präsentieren. Doch er wollte seine Vergangenheit nicht schönen oder ihr in Anbetracht einer möglichen Zukunft den letzten Schliff verleihen. Er wollte sich zeigen, wie er war, nämlich in Bewegung, woraus sich gewisse Widersprüche zwischen Gegenwart und Vergangenheit ergaben. Das unterstreicht Albert Camus’ Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und moralische Größe.
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