Ich werde dich finden, mein Sohn by Carol Schaefer

Ich werde dich finden, mein Sohn by Carol Schaefer

Autor:Carol Schaefer
Die sprache: deu
Format: epub


Kapitel 10

Ich fing in Ohio als Sozialarbeiterin an. Um diese Zeit streikten die Arbeiter bei Goodrich und Firestone. Der Streik dauerte schon Monate an, der Gewerkschaft begann das Geld auszugehen. Stolze Männer mit verängstigten Familien standen um Essensmarken Schlange. Ich sollte einer völlig überlasteten älteren Kollegin helfen, die sich um die Familien der Streikenden kümmerte.

Ich hätte gern mit den Ärmsten der Armen gearbeitet. Ich wünschte mir die schweren, verzweifelten Fälle. Statt dessen übergab man mir die leichtesten Fälle, achtzig Familien in einem relativ ruhigen Bezirk. Ich hatte so viel Schreibarbeit zu erledigen, daß für Hausbesuche nur wenige Stunden blieben. Aber einen Hausbesuch machte ich, den ich nie vergessen werde.

Ich parkte im Schatten einer ausladenden alten Ulme vor einem heruntergekommenen Häuschen, von dessen Holzschindeln die Farbe abblätterte. Trotz offenkundiger Armut hatte sich die Straße eine Würde bewahrt, die man in den Slums selten antrifft. Ich ging den rissigen Betonweg zum Haus hinauf. Die Holztür mit dem Fliegengitter schepperte, als ich klopfte. Von drinnen hörte ich Schritte und das Stimmchen eines kleinen Kindes. Es dauerte lange, ehe die Tür geöffnet wurde. Wir machten unsere Besuche immer unangemeldet, um eventuelle Betrüger unvorbereitet zu ertappen. Ich fand es peinlich, auf diese Weise vorgehen zu müssen.

Eine große Frau Anfang zwanzig mit kurzem Haar musterte mich durch das Fliegengitter. Ihr kleiner Sohn klammerte sich an ihren braunen Baumwollrock. Sie war eine ledige Mutter, die vom Jugendamt Kindergeld bekam. Ich sagte ihr, ich sei die für sie zuständige Sozialarbeiterin. Sie bat mich ins Haus, sagte aber gleich dazu, sie habe nur wenig Zeit, sie müsse zur Arbeit. Als ich ihr Einkommen und ihre Miete überprüfte, sah ich sofort, daß sie den Höchstsatz weit überschritten hatte. Ich sagte nichts, aber sie tat es.

Sie bat mich, sie nicht aus dem Haus zu vertreiben. Sie könne nicht in eine noch schlimmere Gegend ziehen, wo sie ständig um ihren Sohn Angst haben müsse. In sechs Monaten hoffe sie, genug gespart zu haben, um ohne Sozialhilfe auskommen zu können. Der Vater ihres Sohnes hatte sie verlassen, als er erfuhr, daß sie schwanger war. Ihre Eltern hatten sie hinausgeworfen. Es gab niemanden, der ihr half.

Der Blick des kleinen Jungen hing unverwandt am Gesicht der Mutter, während wir miteinander sprachen, und während ich ihr zuhörte und sah, wie sie schützend die Hände um das Kind legte, wurde mir bewußt, daß ich diese Frau hätte sein können, wenn ich nur den Mut dazu gehabt hätte. Sie stammte aus einer gutsituierten Familie; sie hätte das College besuchen, sich hübsch kleiden, einen guten Beruf ergreifen können. All das hätte sie haben können, wenn sie ihr Kind zur Adoption freigegeben hätte, sagte sie. Statt dessen arbeitete sie als Bedienung in einem Schnellrestaurant, lebte in einer fremden Stadt am Rande der Slums und hatte nicht einmal genug Geld übrig, um ab und zu ins Kino zu gehen. Aber die Liebe, die sie und ihr Kind verband, war fühlbar und sichtbar. Sie saß auf der Kante des zerschlissenen Sofas, dem einzigen Möbelstück im Zimmer, und war ein ganzer Mensch. Ich saß in der anderen Ecke, zerrissen und gespalten.



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