Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra by Roberto Saviano

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra by Roberto Saviano

Autor:Roberto Saviano
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 3423345292
veröffentlicht: 2014-03-04T23:00:00+00:00


Zweiter Teil

Kalaschnikow

Ich ließ die Finger darübergleiten, mit geschlossenen Augen. Die Kuppe meines Zeigefingers strich über die gesamte Fläche, von oben nach unten. An den Einschußstellen blieb der Fingernagel hängen. So tastete ich Scheibe für Scheibe ab. Manchmal paßte die ganze, manchmal die halbe Fingerkuppe in das Loch. Wo die Oberfläche glatt war, kam ich recht schnell voran. Wie ein sich schlängelnder Wurm glitt mein Finger über die Unebenheiten. Bis ich mich schnitt. Ein wäßriger, purpurroter Film blieb auf dem Glas zurück. Ich öffnete die Augen. Ein plötzlicher stechender Schmerz. Die Vertiefung im Glas füllte sich mit Blut. Ich hörte mit diesem idiotischen Spiel auf und sog an der Wunde.

Die Einschußlöcher einer Kalaschnikow sind kreisrund, wie gestanzt. Die Projektile fressen sich mit ganzer Wucht in die Panzerscheiben, höhlen sie aus wie nagende Holzwürmer, die anschließend wieder verschwinden. Von weitem sehen die Einschüsse eines Schnellfeuergewehrs eigenartig aus, wie lauter kleine Bläschen zwischen den gepanzerten Glasschichten. So gut wie kein Ladenbesitzer erneuert die Schaufensterscheibe, wenn sie mit einer Kalaschnikow beschossen wurde. Einige verschmieren die Löcher mit Silikon, andere behelfen sich mit schwarzem Klebeband, aber die meisten lassen alles so, wie es ist. Eine gepanzerte Scheibe kostet bis zu fünftausend Euro, da nutzt man dieses Dekor der Gewalteinwirkung lieber als Schaufensterschmuck. Womöglich lockt der Anblick Kunden an, die neugierig stehenbleiben, um zu erfahren, was passiert ist. Nach einem Schwätzchen mit dem Ladenbesitzer wird dann nicht selten mehr gekauft, als ursprünglich beabsichtigt. Statt die Scheibe zu ersetzen, wartet man mitunter auch darauf, daß sie im nächsten Kugelhagel zerspringt. Dann zahlt die Versicherung, denn wer rasch genug die Spuren verwischt, kann das Schnellfeuer als Raubüberfall deklarieren.

Hinter einem Schaufensterbeschuß steckt nicht unbedingt ein Einschüchterungsversuch, eine Botschaft in der Sprache von Gewehrkugeln. Bisweilen handelt es sich schlicht und einfach um eine waffentechnische Notwendigkeit. Neu gelieferte Kalaschnikows müssen eben getestet werden. Es gilt auszuprobieren, ob sie funktionieren, ob der Lauf richtig sitzt. Man muß sich mit der Waffe vertraut machen und überprüfen, ob das Magazin nicht klemmt. Sicher, man könnte sie auch irgendwo auf freiem Feld ausprobieren, an den Panzerscheiben alter Autos, oder man könnte entsprechende Scheiben kaufen und ungestört beschießen. Aber nein. Sie feuern auf Schaufenster, auf gepanzerte Türen und auf Rolläden, um keinen Zweifel daran zu lassen, daß alles ihnen gehört, alles letztlich nur vorläufig bewilligt ist, daß sie einen nur vorübergehend ermächtigen, irgendein Geschäft zu betreiben. Ein Zugeständnis, bloß ein Zugeständnis, das jederzeit widerrufen werden kann. Das Ganze hat auch einen indirekten Vorteil, denn sämtliche Glasereien im Umkreis, die das preiswerteste Panzerglas anbieten, gehören den Clans, und mit der Zahl der zerstörten Scheiben wächst deren Profit.

In der Nacht zuvor waren dreißig Kalaschnikows aus dem Osten eingetroffen. Aus Mazedonien. Die Strecke Skopje -Gricignano d’Aversa garantiert einen zügigen und sicheren Warenverkehr, der die Lager der Camorra mit Maschinenpistolen und Pumpguns füllt. Sofort nach dem Fall des Eisernen Vorhangs trafen sich die Bosse mit der Führung der in Auflösung begriffenen kommunistischen Parteien. Die Camorra vertrat den mächtigen, effizienten und diskreten Westen am Verhandlungstisch. Ohne große Formalitäten kauften die Clans



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