Fiktionen by Markus Gabriel
Autor:Markus Gabriel
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Ontologie, Philosophie, Welterklärung
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2020-01-02T00:00:00+00:00
427Dritter Teil: Sozialer Realismus
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Was unterscheidet eine soziale Tatsache â wie den Umstand, dass man in New York City drei Arten von Einkommenssteuer entrichten muss â von eindeutig nicht-sozialen Tatsachen â wie dem Umstand, dass E=mc2? Gibt es irgendein genau bestimmtes Merkmal oder eine systematisch organisierte Merkmalklasse, die alle sozialen Tatsachen als solche von allen nicht-sozialen Tatsachen unterscheidet? Gibt es eine spezifische Ontologie des Sozialen?
Die Sozialontologie als Teildisziplin der Philosophie ist die systematische Untersuchung der Frage, ob es allgemeine strukturelle Bedingungen dafür gibt, dass das So-Sein bestimmter Tatsachen sozial ist. Eine Tatsache ist dann sozial, wenn ihr So-Sein das aufeinander abgestimmte Verhalten mehrerer Individuen einer Spezies wesentlich involviert. Eine soziale Tatsache liegt nicht nur dann vor, wenn mehrere Individuen faktisch eine Handlung derselben Art vollziehen. Denn auch ein einziges Individuum kann durch sein Handeln soziale Tatsachen schaffen oder in sie eingebettet sein, ohne diesen Umstand jemals zur Kenntnis zu nehmen.
Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass es für Sozialität entscheidend ist, dass Handlungen sozialer Lebewesen nicht vollzogen werden könnten, wäre es nicht zu irgendeinem Zeitpunkt zu einer expliziten oder impliziten Integration der Perspektive eines Individuums in den Handlungsablauf eines anderen Individuums gekommen. Das Soziale liegt demnach ziemlich buchstäblich im Auge des Betrachters: Es besteht darin, dass man anders wahrnimmt als andere, weil man eine Perspektive innehat. Das Innehaben einer Perspektive ist bei geistigen Lebewesen unserer Spezies, auf die ich mich ohne Anspruch auf biologische Vollständigkeit konzentrieren werde, konstitu430tiv sozial, weil wir sozial produzierte Lebewesen sind, d.ââh. Lebewesen, die nur deswegen überhaupt das Licht der âºWeltâ¹ erblicken, weil unsere jeweiligen Vorfahren durch ihr Reproduktionsverhalten dafür gesorgt haben, dass es uns jeweils gibt. Sozialität wird buchstäblich weitervererbt, indem Lebewesen unserer Art sozial produziert werden, womit bereits auf der Ebene von Zellreproduktion Sozialität zum Tragen kommt: Das Verhalten unserer Mütter (Ernährung, Bewegungsabläufe usw. und die damit korrelierten biochemischen Kreisläufe) bestimmt ontogenetisch vor jedem Bewusstwerden eines Individuums zusammen mit der genetischen Grundkodierung, die aus der Paarung von Zellen resultiert, die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Intentionalität ist damit durch und durch sozial (produziert), was gerne übersehen wird, wenn man vom erstpersonalen Standpunkt eines Akteurs ausgeht, der sich qua Sozialontologe als jemand auffasst, der paradigmatisch am Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen beteiligt ist, indem er urteilt: »Ich denke, dass p«.
Ohne Integration in einen wirklichen (nicht bloà vorgestellten!) sozialen Kontext gibt es keine Handlungen. Etwas Bestimmtes zu tun, setzt bei sozialen Lebewesen wie Menschen (um die es im Folgenden ausschlieÃlich gehen wird) voraus, dass mehrere Perspektiven vorliegen, die aufeinander abgestimmt sind. Diese Abstimmung bedarf keiner expliziten Anerkennung, Einfühlung oder sonstiger als solcher transparenter Haltung zu Fremdbewusstsein. Sie kann unbemerkt hinter dem Rücken der Akteure zustande kommen. Es gibt soziale Tatsachen, von denen niemand jemals explizite Kenntnis erlangen wird.
Das schlieÃt offensichtlich nicht aus, dass soziale Tatsachen durch Explikation von Prinzipien der Handlungskoordination zustande kommen und aufrechterhalten werden können; nur, dass dies weder der Regelfall noch das Paradigma des Sozialen sein sollte. Zum Beispiel ist die Institution von Verkehrsregeln in diesem Sinne sozial, weil
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