Ein Junge in guter Stellung by Rick Whitaker

Ein Junge in guter Stellung by Rick Whitaker

Autor:Rick Whitaker
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
Herausgeber: Bruno Gmünder
veröffentlicht: 2012-04-13T00:00:00+00:00


5

In Sowing, der Autobiographie über die Jahre seiner Kindheit und auf Cambridge, wünscht sich Leonard Woolf auf Seite 54 eine 'lebhafte Erinnerung daran, wie er sich als Junge von zwölf oder dreizehn fühlte'. Er habe, so schreibt er, bloß 'vage Erinnerungen daran'. Abgesehen von einigen ungewöhnlichen 'Perioden voll sagenhafter Energie und Lebensfreude' schien er 'beinahe im Zustande des Scheintods zu leben, ein Dasein wie unter Wasser … Es war eine Traumwelt. … Einerseits wollte ich aufwachen, andererseits fürchtete ich mich halb davor. Nun, da ich auf die achtzig zuschreite, hege ich Zweifel, ob ich tatsächlich je erwacht bin.'

Ich frage mich, ob ich je aufwachen werde. Ich hatte viele Male das Gefühl, irgendwie aufzuwachen, aber nie vollständig oder dauerhaft, und ganz wie der Ehemann von Virginia Woolf fürchte ich mich auch halb davor. Als ich noch Vollzeit als Callboy arbeitete, bewegte ich mich auf jeden Fall mehr in einer Traumwelt als jetzt. Teils lag das an den Drogen, die ich nahm, aber teils war es auch ein Geisteszustand, den ein Stricher oder Callboy instinktiv kultiviert. Daran ist nichts sonderlich Mysteriöses; es handelt sich einfach um eine Mischung aus Leugnung, Faulheit und Romantisierung. Irgendwo las ich mal, ein Romantiker sei jemand, der stets woanders sein möchte, als er gerade ist. Das trifft auf mich zu. Und als Callboy oder Stricher ist man immer anderswo. Geistig ist man nie dort, wo man gerade ist, und dabei ist man ohnehin alle zwei Stunden woanders. Geist und Körper zu trennen fällt nicht schwer; man lässt sich einfach davontreiben. Und eine Zeitlang ist das auch zutiefst angenehm. Die Prostitution fand ich in der Regel nicht angenehm, aber mir gefiel der Trancezustand, in dem ich lebte. Ich vermisse diesen Geisteszustand nicht, aber ich könnte es verstehen, wenn es so wäre. Jedenfalls bin ich noch nicht vollends daraus aufgewacht. Der Lehrer eines Meditationskurses, den ich, nachdem ich mit dem Anschaffen aufgehört hatte, eine Weile besuchte, sagte immer, bei der Meditation ginge es darum, hellwach zu sein und die 'eigenen Energien handzuhaben'. Dank Yoga und Meditation erlebte ich 'Perioden voll sagenhafter Energie und Lebensfreude', aber die hatte ich auch gehabt, als ich Speed nahm. Die Perioden ohne Drogen – wenn ich mich ganz auf mich konzentrierte – waren wohl irgendwie authentischer und auch wohlverdienter. Ich bin jedoch Skeptiker und neige zu der Ansicht, dass die wertvollsten, denkwürdigsten und erfüllendsten Ereignisse im Leben meistens dann eintreten, wenn wir sie am wenigsten erwarten.

Ich kann wohl kaum behaupten, dass der Heroin- oder Crystal- Rausch oder der Sex mit einem unattraktiven Fremden auf der Rangliste meiner Erfahrungen weit oben stünden, doch kann ich auch nicht sagen, dass diese Erlebnisse mich stärker korrumpiert oder erniedrigt hätten als das, was ich manchmal in der Gesellschaft im Allgemeinen oder bei bestimmten Personen im Besonderen erlebte. Mir fallen zahllose Situationen ein, wo mich die fehlenden Manieren und die mangelnde Güte einer Gruppe von Menschen zutiefst verletzten, und wir alle litten schon unter der Grausamkeit anderer Menschen, auch wenn diese als geistreiche Bemerkung getarnt war.



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