Die vergessenen Kinder by Dolores Redondo

Die vergessenen Kinder by Dolores Redondo

Autor:Dolores Redondo [Redondo, Dolores]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-02-14T16:00:00+00:00


18

Als sie in Elizondo ankam, war es fünf Uhr morgens. Der Himmel war pechschwarz, als wollte es nie wieder Tag werden. Von Mond und Sternen war nichts zu sehen, wahrscheinlich lagen sie hinter einer dichten Schicht aus Wolken, die jeglichen Lichtschimmer in sich aufsogen, allerdings auch die Kälte etwas minderten. Die Räder ihres Autos ratterten über die Pflastersteine der Brücke, und das Wehr von Txokoto hieß sie mit seinem ewigen Wasserrauschen willkommen. Sie ließ das Fenster herunter, um die feuchte Luft des Flusses zu spüren, der in der Dunkelheit nur zu erahnen war, wie ein Fleck aus schwarzer Seide.

Sie parkte vor dem Bogen, der den Eingang von Engrasis Haus markierte, und stieg aus. Im Dunkeln tastete sie nach dem Schloss. Auf dem langen Weg nach Baztán hatte sie eine tiefe Leere begleitet, die keinen zusammenhängenden Gedanken zugelassen hatte. Tage schienen verstrichen zu sein, seit sie von hier aufgebrochen war, und nun forderten die Müdigkeit und Anspannung ihren Tribut und äußerten sich in einem Gefühl von körperlicher Schwäche. Kaum war sie eingetreten, roch sie den beruhigenden Duft nach Feuerholz, Möbelwachs, Blumen, ja sogar den Butterkeksgeruch von Ibai. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht die Treppe hinaufzustürmen und ihn in den Arm zu nehmen. Vorher hatte sie noch etwas anderes zu erledigen. Sie durchquerte das Haus und ging zur Garage, die ihre Tante als Holzlager, Waschküche und Speisekammer nutzte. Dort gab es auch ein kleines Badezimmer, in dem sie sich auszog. Die Wäsche stopfte sie in eine Mülltüte und stellte sich unter die Dusche. Während das Wasser auf sie prasselte, rieb sie sich die Haut mit einem Stück Seife ab, das sie in der Waschküche gefunden hatte. Als sie fertig war, trocknete sie sich gründlich mit einem kleinen Handtuch ab, das sie schließlich ebenfalls in die Tüte stopfte. Splitternackt kehrte sie zum Eingang zurück und zog einen dicken Morgenmantel aus Wolle an, der ihrer Tante gehörte. Sie öffnete die Haustür und ging barfuß die zwanzig Meter über den eiskalten Boden bis zum Müllcontainer. Dort knotete sie die Tüte zu, warf sie hinein und schloss den Deckel. Als sie das Haus wieder betrat, saß James auf der Treppe.

»Was machst du da?«, fragte er und lächelte amüsiert über ihre merkwürdige Aufmachung.

Sie schloss die Tür und sagte verschämt:

»Ich hab was weggeworfen.«

»So, so, barfuß, bei gerade mal zwei Grad«, bemerkte er, stand auf und breitete in einer vertrauten Geste die Arme aus.

Sie ging zu ihm, schmiegte sich an ihn und sog den warmen Duft seiner Brust ein. Dann hob sie ihr Gesicht, und James küsste sie.

»Oh, James, es war schrecklich«, jammerte sie in dem kindlichen Ton, den sie sich nur ihm gegenüber gestattete.

»Es ist alles gut, mein Schatz. Bei mir bist du sicher.«

Amaia schmiegte sich noch enger an ihn.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, James. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich dem noch einmal aussetzen muss.«

»Ros hat es mir erzählt, als sie nach Hause kam. Es tut mir leid, Amaia, ich weiß, wie schwer dir das gefallen sein muss.«

»James, es ist alles noch viel schlimmer. Es gehen Dinge vor, von denen ich nicht erzählen kann.



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