Mr. Vertigo (German Edition) by Auster Paul

Mr. Vertigo (German Edition) by Auster Paul

Autor:Auster, Paul [Auster, Paul]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644019911
Herausgeber: Rowohlt (com)
veröffentlicht: 2013-01-01T23:00:00+00:00


Ob ich froh war, den Meister wiederzusehen? Da können Sie Gift drauf nehmen. Ob mir das Herz vor Freude klopfte, als er mich in die Arme schloss und an sich drückte? Jawohl, mein Herz klopfte vor Freude. Ob wir Glückstränen vergossen? Aber natürlich. Ob wir lachten und feierten und hundert Freudensprünge machten? Das alles und noch viel mehr.

Meister Yehudi sagte: «Ich werde dich nie mehr aus den Augen lassen.»

Und ich sagte: «Ich werde bis ans Ende meines Lebens nirgendwo mehr ohne Sie hingehen.»

Ein altes Sprichwort sagt, dass man eine Sache erst zu schätzen weiß, wenn man sie verloren hat. Sosehr diese Weisheit zutreffen mag, ich kann nicht sagen, dass sie auf mich je gepasst hat. Ich wusste von Anfang an, was ich verloren hatte: von dem Augenblick, wo ich aus diesem Kino in Northfield, Minnesota, getragen wurde, bis zu dem Augenblick, als ich den Meister in Rapid City, South Dakota, wiedersah. Fünfeinhalb Wochen betrauerte ich den Verlust all dessen, was mir lieb und teuer war, und ich kann hier nur vor aller Welt bezeugen, dass es keine größere Wonne gibt als die, zurückzubekommen, was einem genommen wurde. Von allen Triumphen, die ich mir je an die Fahne heften konnte, hat mich keiner so glücklich gemacht wie die schlichte Tatsache, dass mir das Leben zurückgegeben wurde.

Das Wiedersehen fand in Rapid City statt, weil ich dort eben nach meiner Flucht landete. Knickrig, wie er war, hatte Slim nie richtig für sein Auto gesorgt, und so ging der Karre schon nach dreißig Kilometern der Sprit aus. Wenn mich nicht kurz vor Einbruch der Dunkelheit ein Vertreter in seinen Wagen hätte steigen lassen, würde ich vielleicht noch heute in den Badlands herumirren und vergeblich Hilfe suchen. Ich bat ihn, mich bei der nächsten Polizeiwache abzusetzen, und als die Bullen dann herausgefunden hatten, wer ich war, behandelten sie mich wie den Kronprinzen von Belutschistan. Sie holten mir Suppe und Hot Dogs, sie gaben mir neue Kleider und ein warmes Bad, sie brachten mir Binokel bei. Als am nächsten Nachmittag der Meister kam, hatte ich schon mit zwei Dutzend Journalisten gesprochen und für vierhundert Fotos posiert. Meine Entführung hatte über einen Monat lang für Schlagzeilen gesorgt, und als ein Reporter von der örtlichen Presse auf der Pirsch nach allerletzten Neuigkeiten in der Polizeiwache rumschnüffelte, erkannte er mich von den Fotos wieder und sagte den anderen Bescheid. Und sofort kamen die Bluthunde und Schmierfinken angerannt und tauchten mich in ein stundenlanges Blitzlichtgewitter. Bis in die frühen Morgenstunden riss ich das Maul auf und erzählte ihnen wüste Geschichten, wie ich meine Entführer ausgetrickst und mich verdünnisiert hatte, bevor sie das Lösegeld kassieren konnten. Die nackten Tatsachen hätten es wohl auch schon getan, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, ein bisschen dick aufzutragen. Ich genoss meinen frischen Ruhm in vollen Zügen, und es verdrehte mir nach einer Weile einfach den Kopf, wie diese Reporter mich anstarrten und an meinen Lippen hingen. Schließlich war ich ja so was wie ein Schauspieler, und angesichts eines solchen Publikums brachte ich es nicht übers Herz, die Leute zu enttäuschen.



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