Die Stimme des Herrn. by Stanislaw Lem

Die Stimme des Herrn. by Stanislaw Lem

Autor:Stanislaw Lem [Lem, Stanislaw]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783518389942
Herausgeber: Suhrkamp
veröffentlicht: 1995-11-01T23:00:00+00:00


IX

Ende August fühlte ich mich geistig derart ausgelaugt wie wohl noch nie. Das schöpferische Potential, die Fähigkeit eines Menschen, schwierige Probleme anzugehen, verändert sich im steten Wechsel »von Flut und Ebbe«, den man selbst nur schwer durchschaut. Ich habe gelernt, dabei eine Art Test anzuwenden: Ich lese meine eigenen Arbeiten, diejenigen, die ich für meine besten halte. Wenn ich darin Schnitzer, Lücken entdecke, wenn mir aufgeht, daß man die Sache hätte besser anpacken können, ist die Probe günstig ausgefallen. Wenn ich hingegen meinen eigenen Text nicht ohne Bewunderung lese, weiß ich: Es ist nicht gut um mich bestellt. Und genau das passierte gegen Sommerausgang. Ich brauchte – auch das wußte ich aus langjähriger Praxis – Zerstreuung und nicht Erholung. Ich schaute also immer öfter bei meinem Nachbarn, Dr. Rappaport, herein und unterhielt mich manchmal stundenlang mit ihm. Über den »Sternencode« selbst sprachen wir selten und nicht sehr ausgiebig. Einmal traf ich ihn, wie er über große Pakete gebeugt stand, denen niedliche kleine, bunt glänzende Bücher mit märchenhaften Einbänden entquollen. Er hatte versucht, als »Generator für Mannigfaltigkeit«, die wir in den Konzeptionen vermißten, die Früchte der literarischen Phantasie auszunutzen – dieses besonders in den Staaten beliebten Genres, das durch eine hartnäckige Verkennung der Tatsachen Science Fiction genannt wird. Er hatte derlei Bücher vorher nie gelesen. Nun war er böse, ja sogar empört, weil sie ihn durch ihre Eintönigkeit enttäuscht hatten. »Außer Phantasie gibt es darin alles«, sagte er. Es handelte sich freilich um ein Mißverständnis. Die Autoren der pseudowissenschaftlichen Märchen bieten dem Publikum das, was es selber haben will: Banalitäten, Binsenweisheiten, Klischees, entsprechend verpackt und bizarr aufgemacht, so daß sich der Verbraucher einem harmlosen Staunen hingeben und zugleich unbehelligt bei seiner Lebensphilosophie bleiben kann. Wenn es in der Kultur einen Fortschritt gibt, dann vor allem einen begrifflichen, und den tastet die Literatur, besonders die phantastische, nicht an.

Die Gespräche mit Dr. Rappaport bedeuteten mir sehr viel. Er hatte eine so zupackende und rücksichtslose Art zu formulieren, daß ich sie liebend gerne übernommen hätte. Die Themen unserer Diskussionen waren pennälerhaft: Wir disputierten über den Menschen. Rappaport war etwas wie ein »thermodynamischer Psychoanalytiker«, er behauptete zum Beispiel, eigentlich könne man alle grundlegenden Antriebskräfte menschlichen Handelns direkt aus der Physik ableiten – einer genügend weit verstandenen Physik natürlich.

Der Destruktionstrieb ergäbe sich unmittelbar aus der Thermodynamik. Das Leben sei Betrug, ein Unterschlagungsversuch, das Bestreben, die ja doch unvermeidlichen und unerbittlichen Gesetze zu umgehen; von der übrigen Welt abgeschnitten, beschreite es sofort den Weg des Verfalls, diese schiefe Ebene führe zum Normalzustand der Materie, einem beständigen Gleichgewicht, das den Tod bedeute. Um fortzubestehen, müsse es sich von der Ordnung nähren, und da es diese – hochorganisiert – außerhalb des Lebens nirgendwo gebe, sei es dazu verdammt, sich selber aufzufressen; man müsse zerstören, um zu leben, sich von der Ordnung nähren, die insoweit Nahrung ist, als sie sich zunichte machen läßt. Nicht die Ethik, sondern die Physik legt diese Gesetzmäßigkeit fest.

Als erster hatte das vermutlich Schrödinger bemerkt, aber er hatte, in seine Griechen verliebt, nicht gesehen, was man



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