Die dreizehnte Geschichte by Diane Setterfield

Die dreizehnte Geschichte by Diane Setterfield

Autor:Diane Setterfield
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Karl Blessing Verlag


Ich hatte das Gefühl, als stünde der Wagen des Doktors eine Ewigkeit in Miss Winters Einfahrt. Bei meiner ersten Ankunft in Yorkshire kam er jeden dritten Tag, dann jeden zweiten, dann jeden Tag, und inzwischen kam er zwei Mal täglich. Ich musterte Miss Winter genau. Ich kannte die Fakten. Miss Winter war sterbenskrank. Doch sie schien nicht kränker, dem Tod nicht näher zu sein als in den ersten Tagen. Wenn auch dünn und sehr müde, so schien sie doch, sobald sie ihre Geschichte erzählte, aus einer Kraftquelle zu schöpfen, der Alter und Krankheit nichts anhaben konnten. Ich erklärte mir das Paradox, indem ich mir sagte, der konsequenten ärztlichen Behandlung sei es zu verdanken, dass Miss Winter noch am Leben war.

In Wahrheit hatte sich wohl, ohne dass ich es ihr angesehen hätte, ihr Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert. Denn wie sonst hätte ich mir Judiths unerwartete Ankündigung erklären sollen, mit der sie eines Morgens in mein Zimmer platzte. Aus heiterem Himmel ließ sie mich wissen, es gehe Miss Winter zu schlecht, um mich zu empfangen. Für ein, zwei Tage sei sie zu unseren Gesprächen nicht in der Lage. Da es hier nichts für mich zu tun gebe, könne ich ebenso gut einen Kurzurlaub einlegen.

»Einen Urlaub? Nachdem sie das letzte Mal ein solches Theater gemacht hat, würde ich eher denken, dass es ihr im Traum nicht einfallen würde, mich jetzt wegzuschicken. Und das so kurz vor Weihnachten!«

Obwohl Judith rot wurde, rückte sie keine weiteren Informationen heraus. Hier stimmte etwas nicht. Ich wurde aus dem Weg geschafft.

»Ich kann Ihnen einen Koffer packen, wenn Sie wollen?«, bot sie an. Sie lächelte beschwichtigend, denn sie wusste, dass mir ihre Heimlichtuerei nicht entging.

»Das schaffe ich schon allein.« Die Verärgerung machte mich patzig.

»Maurice hat seinen freien Tag, aber Dr. Clifton wird Sie zum Bahnhof fahren.«

Arme Judith. Sie hasste es, jemanden zu täuschen, und Ausflüchte lagen ihr nicht.

»Und Miss Winter? Ich würde sie gerne kurz sprechen, bevor ich fahre.«

»Miss Winter? Ich fürchte, sie …«

»Will mich nicht empfangen?«

»Kann Sie nicht empfangen.« Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie ehrlich und aufrichtig die Wahrheit sagen konnte. »Glauben Sie mir, Miss Lea. Sie kann es einfach nicht.«

Was immer Judith wusste, das wusste Dr. Clifton auch.

»In welchem Teil von Cambridge hat Ihr Vater denn seinen Laden?«, wollte er wissen. »Hat er auch etwas in Medizingeschichte auf Lager?« Ich antwortete knapp, da mir meine eigenen Fragen mehr unter den Nägeln brannten als seine, und so gab er seine Bemühungen, ein Gespräch in Gang zu halten, irgendwann auf. Als wir Harrogate erreichten, lastete Miss Winters Schweigen bedrückend zwischen uns.



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