Der Anfang von morgen: Roman - Das Buch zum Thema, das uns alle verbindet (German Edition) by Liljestrand Jens

Der Anfang von morgen: Roman - Das Buch zum Thema, das uns alle verbindet (German Edition) by Liljestrand Jens

Autor:Liljestrand, Jens [Liljestrand, Jens]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104916378
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2022-07-01T00:00:00+00:00


Freitag, 29. August

Das Wasser ist grau, hier und da ein Hauch von Silber. Der alte Mann sitzt nackt neben mir, tropft noch, und isst kalte Ravioli direkt aus der Dose. Er hat Hunger und futtert so gierig, dass etwas von der geleeartigen Tomatensoße vom Löffel fliegt und auf seiner linken Schulter landet; gelassen wischt er etwas von dem Klecks mit seinem Stoppelbartkinn weg, der Rest stürzt ab auf seinen Brustkorb.

Der Horizont verblasst langsam in der Dämmerung.

Die Martina schaukelt in der leichten Abendbrise.

»Das Leid«, antworte ich schließlich.

Vater nickt gelangweilt.

»Das menschliche Leid«, schiebe ich schnell hinterher, um mich präziser auszudrücken. »Würde man das Leid der Tiere auch hinzurechnen, wird es total unübersichtlich, denn für domestizierte Tiere ist Leiden ja seit der Revolution der Landwirtschaft bis heute der Normalzustand. Wusstest du, dass für die Produktion unseres Fleischbedarfs täglich zweihundert Millionen Schlachtungen durchgeführt werden, quasi ein Holocaust pro Stunde, das bedeutet Leid in einem Ausmaß, das man sich fast nicht mehr vorstellen kann, das ist …«

Er hört gar nicht zu, seufzt nur, blickt hinaus aufs Meer.

»Aber wenn man sich mal rein auf den Menschen konzentriert. Homo sapiens , genauer gesagt, denn die anderen menschenähnlichen Arten haben wir natürlich auch ausgerottet, und das unter Umständen, die nur wir uns vorstellen können. Diejenigen, die wir mit Steinen und Knüppeln noch nicht totschlagen konnten, haben wir in den sicheren Hunger- oder Kältetod gezwungen, haben die Kinder ausgesetzt, damit sie von den wilden Tieren im Wald zerlegt werden, nachdem wir ihre Mütter vergewaltigt haben, DNS -Tests belegen ja, dass wir teilweise von den Neandertalern abstammen.«

Er hebt eine buschige graue Augenbraue.

»Im Ernst?«

Ich nicke.

»Und alle gleich viel?«

»Na ja … manche vielleicht mehr als andere. Rein genetisch.«

Er gluckst.

»Was so einiges erklärt.«

»Aber das Leid«, fahre ich fort, »so wie wir es dokumentiert finden, seit Menschen über ihr Leben berichten. Und ich meine gar nicht mal die großen Katastrophen, die Pest, die Kriege, die Spanische Inquisition, all diese Ereignisse, sondern das tägliche Leid, das selbstverständliche. Die Gebrechen. Die Traumata. Der andauernde Hunger. Die Züchtigung von Kindern, die Sklaverei, ein Rechtswesen, bei dem Folter und Sadismus an der Tagesordnung waren. Unsere Geschichte ist auch eine Geschichte des Leids, früher hat es ein Ausmaß an Leid gegeben, das sich die Menschen der modernen Industriegesellschaften nicht einmal vorstellen können. Hast du zum Beispiel gewusst, dass …«

»Obwohl ich es mir durchaus vorstellen kann«, sagt Vater trocken. »Kannst Rafael Nadal fragen. Die ganze Karriere lang fürchterliche Schmerzen. Der Fuß, die Handgelenke, die Schulter, das Knie, einmal rauf und runter. Hat unter Spritzen gespielt, fünf Stunden gegen Federer, vollgepumpt mit Schmerzmitteln.«

Ich nicke heftig.

»Genau, und früher war das nicht nur bei den Sportlern so, sondern betraf alle Menschen, die Körper wurden in der Grube oder im Wald oder bei Geburten regelrecht verschlissen, im Zusammenhang mit Krieg oder Verbrechen oder sexuellen Übergriffen waren sie gröbster Gewalt ausgesetzt, da hatte man Beinbrüche, die nie heilten, infizierte Wunden, Phantomschmerzen nach verlorenen Gliedmaßen, Gonorrhö, Feigwarzen, Syphilis.«

Vater wiehert.

»Wie gesagt, musst nur Rafa fragen, haha.«

Die Martina schwoit in einer Bucht, die Insel heißt Nåttarö, der südlichste Ort der Stockholmer Schären.



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