Der Tote im Pool by Jean-Christophe Rufin

Der Tote im Pool by Jean-Christophe Rufin

Autor:Jean-Christophe Rufin [Rufin, Jean-Christophe]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Tropen
veröffentlicht: 2024-03-13T00:00:00+00:00


X

Aurel musste unbedingt mit Lucrecia sprechen. Seit Béliots Beerdigung beschäftigten ihn Fragen, die nur sie beantworten konnte – vorausgesetzt, sie wäre dazu bereit.

Er nahm ein Taxi zur Residenz dos Camarões. Doch der Wachmann erzählte ihm, Lucrecia habe am Vorabend ihre Koffer gepackt und das Hotel verlassen.

»Ich glaube, sie ist bei Schwester.«

»Bei ihrer Schwester? Sie hat eine Schwester?«

»Nein, katholische Schwester. Nonnen.«

»Welcher Orden?«

Der Wachmann ging in sein Häuschen und kam mit einem Blatt Papier zurück.

»Karmelitinnen«, las Aurel, »an der Straße zum Flughafen.«

Er stieg wieder in das Taxi, um sich dorthin bringen zu lassen. Der Fahrer kannte das Kloster jedoch nicht, und weil sie auch keine genaue Adresse hatten, fuhren sie kreuz und quer durch das Viertel und fragten Passanten nach dem Weg. Es handelte sich um ein neues, in den Fünfzigerjahren entstandenes Stadtviertel, in dem es keine Hochhäuser gab. Die Straßen waren von hohen Mauern gesäumt, hinter denen sich prächtige Gärten mit einstöckigen Villen verbargen. Das Tor des Klosters unterschied sich nicht von denen der anderen Häuser, doch als das Taxi hupte, erschien ein Wachmann und bestätigte ihnen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Aurel ließ sich ankündigen, woraufhin ihn eine afrikanische Nonne, die ein beigefarbenes Habit und eine weiße Flügelhaube trug, abholte. Sie sprach kein Französisch und verstand nur den Namen Lucrecia. Sie führte Aurel durch einen Garten, der fast ebenso üppig war wie der von Béliot, aber naturbelassener und ohne Töpfe und Hängepflanzen auskam. Als sie eine lang gestreckte Veranda erreichten, gab sie ihm zu verstehen, er möge sich auf die Bank setzen und kurz warten.

Der Ort war ruhig, hell und frei von menschlichen Ausdünstungen. Über der Tür hingen ein eisernes Kruzifix und an den Wänden zwei Bilder der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind sowie Reproduktionen byzantinischer Ikonen. Auf dem Beistelltisch lagen einige alte Ausgaben des L’Osservatore Romano, die über den Vatikan berichteten.

Aurel fühlte sich in solch religiösen und vom Rest der Welt abgesonderten Einrichtungen stets seltsam fremd. Für ihn war Glaube – und da erkannte er den Einfluss des jüdischen Teils seiner Familie – ein Werkzeug, das man innerhalb der Welt benutzen sollte. Einen rein spirituellen Ort zu schaffen, erschien ihm wie eine Art Betrug. Religion sollte die Konfrontation mit dem Leben nicht scheuen. Und das Leben war überall – nicht nur an diesem Ort.

Er schlug den Kragen hoch, als würde ihn bei dem Gedanken daran ein Schauer durchfahren. In diesem Augenblick erschien eine Nonne. Es war eine Europäerin, die ebenso gekleidet war wie die Nonne, die ihn hierhergeführt hatte. Sie war um die sechzig, hatte ein kantiges Gesicht, und ihre blauen Augen blickten wach umher. Es schien, als wollte sie Aurel daran hindern, den leisesten Anflug von Gottlosigkeit vor ihr zu verbergen. Er liebte solche Blicke, die das Gegenüber bis ins tiefste Innere erforschten, die Seele ausloteten und keinen Zweifel an der eigenen Schuld zuließen. Seine masochistischen Züge machten Freudensprünge. Er stellte sich vor und gestand seine rumänische Herkunft, als handele es sich um eine Sünde.

»Ach, das ist ja lustig!«, rief die Nonne auf Französisch, aber mit einem starken slawischen Akzent.



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