Der Kojote im Vulkan by Harald Braem

Der Kojote im Vulkan by Harald Braem

Autor:Harald Braem
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9788494342950
Herausgeber: Zech Verlag
veröffentlicht: 2015-07-27T00:00:00+00:00


Die Hexenschlucht

Es gibt auf Gomera viele Plätze und Pfade, die gefährlich und unheimlich sind, doch keine Gegend ist so verrucht wie die Schlucht bei La Dama. Wo sich der schmale Weg am steilen Rand des Barranco de Iguala in Richtung Meer entlangwindet, muss man an einer Plantage vorbei, die im Volksmund Hoya del Diablo – Teufelsloch heißt. Man sagt, der Leibhaftige habe hier dem allerersten Besitzer geholfen, einen tiefen Schacht in den Felsen zu bohren, und der Mann habe für den Wasser und Reichtum spendenden Brunnen mit seinem Herzblut bezahlt. Von hier an wird der Weg durch die Schlucht nach La Dama immer wilder und unübersichtlicher. Erreicht man den Ort nicht rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit, so wird das Gehen zum lebensgefährlichen Stolpern, das schon manchem zum Verhängnis geworden ist. An bestimmten Abenden tauchen Lichter auf, die es eigentlich nicht geben dürfte – die locken mächtig an und führen, wenn man sie für die ersten Häuser von La Dama hält und ihnen solchermaßen vertraut, gnadenlos in die Irre. Auch ertönen eigenartige Stimmen und zuweilen Gesang, der nicht aus menschlichen Kehlen stammt; man mag sich noch so sehr einreden, dies sei bloß das Stöhnen und Heulen des Windes – einen fröstelt dennoch, wenn man es hört.

In gewissen Nächten aber, über die man auf Gomera nur hinter der vorgehaltenen Hand sprechen darf, sollte man den Weg nach La Dama auf jeden Fall meiden, denn dann sind die Hexen unterwegs und fangen sich Beute.

Ein Mann aus dem kleinen Weiler Gerian, der zu Besuch in La Dama war, setzte sich eines Tages über dieses Wissen hinweg. Alle Bedenken seiner besorgten Freunde in den Wind schlagend, machte er sich nach dem Genuss einiger Gläschen Rotwein auf den Rückweg in sein Dorf.

„Ich kenne den Weg wie mein Hemd, jede Falte, jede Biegung, jeden Tritt und Stein“, hatte er großsprecherisch getönt. „So schnell wie ich ist noch niemand dort entlanggelaufen.“

„Aber du brauchst bestimmt zwei Stunden“, hatten die Freunde gewarnt, „vielleicht auch länger mit dem Essen im Bauch und dem Wein im Kopf. Besser, du schläfst hier bei uns aus und gehst erst morgen zurück.“

„Blödsinn“, hatte der Mann gerufen, „ich fühle mich leicht wie eine Feder, und der Wind bläst vom Meer her – da brauche ich bloß die Arme auszubreiten und fliege von selbst nach Hause.“

Ganz so war es aber nicht, obgleich die kühle Brise den Mann etwas erfrischte. Es wurde sogar kalt, denn die Sonne begann zu sinken und ließ die späten Nachmittagsschatten immer größer werden, so dass ringsumher die Farben verblassten. Der Mann lief schnell und trotz des Weines erstaunlich sicher, stellte aber nach einer Stunde fest, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er blieb stehen und hob prüfend den Blick. Warum kam die Wand, an der der Pfad seitlich in steilen Serpentinen hinaufführte, nicht näher? Der Mann hätte längst dort sein müssen und kletterte stattdessen noch immer in der tiefsten Sohle der Schlucht herum. Er kratzte sich verwundert am Kopf und glaubte plötzlich, so etwas wie Gesang zu hören, der unmöglich von La Dama und den zurückgelassenen Freunden stammen konnte, denn dazu waren sie inzwischen zu weit entfernt.



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