Der deutsche Glaubenskrieg by Bendikowski Tillmann

Der deutsche Glaubenskrieg by Bendikowski Tillmann

Autor:Bendikowski, Tillmann
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: C. Bertelsmann
veröffentlicht: 2016-02-22T10:23:11+00:00


Gemeinsame Ängste, gemeinsame Feinde

Im 19. Jahrhundert war die Angst geradezu mit Händen zu greifen. Jedenfalls für die christlichen Kirchen. Sie hatten Angst um die Zukunft des christlichen Glaubens und um ihre eigene Existenz. Die Bedrohung erschien ihnen diesmal ganz anders als in der Vergangenheit, als es immer mal wieder vereinzelte Gruppen von Menschen gab, die der Kirche den Rücken zugewandt hatten. War jetzt nicht alles viel schlimmer, weil es nicht mehr nur um das Seelenheil einiger verlorener Seelen ging, sondern um die ganze Welt des Glaubens? Stand jetzt nicht alles auf dem Spiel?

»Wir können nicht leugnen, daß wir in einer schlimmen und betrübten Zeit leben. Es gibt Tausende und Abertausende, die an keinen Gott mehr glauben. Es gibt Tausende und Abertausende, die das Christentum von ganzem Herzen hassen und das Evangelium des Herrn Jesu mit Stumpf und Stiel ausrotten möchten.«107

Mit dieser Diagnose stand der Berliner Geistliche Wilhelm Ziethe um das Jahr 1860 keineswegs allein da. Schon Mitte des Jahrhunderts hatte sich eine Entwicklung angekündigt, die dann an der Schwelle des 20. Jahrhunderts einen ungeahnten Höhepunkt erreichte. Jetzt schien nichts weniger als die Entkirchlichung oder auch Entchristianisierung Deutschlands zu drohen. Erst leise und in kleinem Rahmen, dann immer geräuschvoller und umfangreicher hatte die Auswanderung aus den Kirchen an Geschwindigkeit zugenommen. Immer weniger Menschen besuchten einen Gottesdienst oder nahmen am Abendmahl teil, immer weniger Kinder wurden christlich getauft; die Zahl der kirchlichen Eheschließungen ging zurück, nachdem der Staat die Zivilehe, die Trauung vor einem Standesbeamten, eingeführt hatte. Sogar auf die seelsorgliche Begleitung nach dem Tod und eine traditionelle kirchliche Beerdigung verzichteten immer mehr Menschen.

Diese Krise der kirchlichen Praxis betraf beide konfessionellen Lager, wenngleich zunächst und in größerem Maße den Protestantismus, dann aber auch den Katholizismus. Und ihre Ängste waren identisch, denn zuweilen wurde diese Krise auch als Zeichen des nahen Weltendes interpretiert. Hatte der Apostel Paulus nicht prophezeit, dass dem Weltende und also der Wiederkehr Christi der Abfall der Menschen vom Glauben vorausgehen werde? Musste die augenscheinliche Auflösung der traditionellen Glaubenswelt nicht genau dafür ein Indiz sein? Der zitierte Berliner Geistliche Ziethe sah dies genauso:

»Das sind Zeichen der Zeit, die uns warnen sollen. Wir wissen freilich nicht, ob die Zukunft des Herrn heute oder morgen oder bald geschehen wird. Aber das wissen wir, sie kann kommen, da ihre Vorboten und Vorzeichen eingetreten sind.«108

Die Auswanderung aus den Kirchen, die diesen und so viele andere Gottesmänner mit Furcht erfüllte, war längst auch mit den Mitteln der Kirchenstatistik zu greifen. Für die Protestanten wurde bei nahezu allen statistischen Indikatoren ein deutlicher Niedergang des kirchlichen Lebens deutlich, nur die Angst vor einer Zukunft der leeren Kirchen blieb stabil. Es war schließlich keine klar eingrenzbare Gruppe von Menschen, die da ging. Sicherlich verloren die Kirchen eher die Männer. In den Städten ging die Entfremdung von der Kirche rascher vonstatten als auf dem Land, doch auch dort änderten sich die Verhältnisse. Der Pfarrer hörte auf, das Maß aller Dinge zu sein, er wurde zuweilen zu einem Verteidiger einer älteren moralischen Ordnung, von der sich die Menschen schlicht abwandten.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.