Aristoteles: Grundwissen Philosophie by Wolfgang Detel

Aristoteles: Grundwissen Philosophie by Wolfgang Detel

Autor:Wolfgang Detel [Detel, Wolfgang]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-13T00:00:00+00:00


Aristoteles plädiert mit seiner ethischen Theorie der Charaktertugenden nicht für eine emotionale und charakterliche Mäßigung in allen Lebenslagen, sondern für eine emotionale und charakterliche Reaktion, die der jeweiligen Situation angemessen ist. Wenn es die Situation erfordert, können auch starke Gefühle wie großer Zorn und entsprechende Handlungen angemessen sein. Von entscheidender Bedeutung für das Treffen der charakterlichen Mitte in Wahl und Vollzug der angemessenen Handlungen ist die richtige emotionale Reaktion. Denn es ist vornehmlich ein Zuviel oder Zuwenig an Gefühlen, das uns nach Aristoteles zuweilen zu Willensstärke zwingt oder gar in Willensschwäche oder Schlechtigkeit abgleiten lässt. Eine grundlegende Voraussetzung der Lehre von den Charaktertugenden ist daher, dass es Sinn macht, zwischen vernünftigen und unvernünftigen Gefühlen zu unterscheiden – eine Theorie der rationalen Gefühle muss Teil der Ethik sein.

Die Umrisse einer solchen Theorie deutet Aristoteles an verschiedenen Stellen seines Werkes an, vor allem in der Rhetorik (Rhet. II 2–11); es gibt auch einige Hinweise in der Schrift Über die Seele (An. I 1) und den Ethiken (z. B. EE II 2).30 Die grundlegende Bestimmung ist, dass Gefühle »Widerfahrnisse (pathe) der Seele« sind. Widerfahrnisse allgemein sind leicht entstehende und vergehende Qualitäten eines Dinges, die dieses Ding ohne eigenes Zutun annimmt und ablegt, die es also in diesem allgemeinen Sinne »erleidet«. Die Widerfahrnisse einer menschlichen Seele werden von einem externen Ding x mit der Eigenschaft Q hervorgerufen und haben einen Inhalt, der dem Sachverhalt Q(x) entspricht oder ihm »ähnlich« ist. [94] Obgleich Aristoteles noch nicht über einen klaren Begriff des Gehaltes verfügte, können wir diese Bestimmungen so lesen, dass alle Widerfahrnisse der Seele, mithin alle Gefühle, einen Gehalt haben. Dies wird an der Bestimmung der Emotionen, die eine Unterklasse der Gefühle bilden, besonders deutlich. Denn Aristoteles bestimmt die Emotionen als jene Gefühle, die ein spezifisches formales Objekt haben, das nicht unbedingt tatsächlich existieren muss, von dem der Träger der Emotion aber annehmen muss, dass es existiert. Das formale Objekt einer Emotion ist nach Aristoteles, allgemein formuliert, eine Handlung oder ein Zustand H eines Lebewesens y mit einer Eigenschaft Q (symbolisch formuliert: Q(H(y)), d. h., die Handlung H von y weist die Eigenschaft Q auf). Das formale Objekt des Angstgefühls eines Fußsoldaten kann beispielsweise der Sachverhalt sein, dass der Angriff eines Reiters Todesgefahr bedeutet. Dieses Angstgefühl bezieht sich auf die Gefahr allgemein, die von einem Reiterangriff ausgeht (das »Worüber« der Emotion), außerdem auf den konkreten Reiter, von dem die Gefahr in der jeweiligen Situation ausgeht (die »Zielperson« der Emotion), und schließlich auf den Umstand, dass die empfindende Person ein Fußsoldat ist und einer Gefahr ausgesetzt ist (auf die Eigenschaften und den Zustand des Emotionsträgers).

Diese drei Aspekte der Gefühle sind mögliche Gegenstände von Urteilen. Die Angemessenheit unserer emotionalen Reaktion hängt daher nach Aristoteles wesentlich von der Richtigkeit unserer Urteile in Hinsicht auf das Worüber, die Zielperson und den Zustand des Emotionsträgers ab. Aristoteles skizziert also die Grundzüge einer kognitiven Gefühlstheorie, in der Raum gemacht wird für eine sinnvolle Unterscheidung zwischen rationalen (angemessenen) und irrationalen (unangemessenen) Gefühlen. Von hier aus wird Aristoteles’ Behauptung verständlich, dass menschliche Emotionen einerseits von Urteilen beeinflusst werden und andererseits selbst Urteile beeinflussen können.



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