Anatomie der menschlichen Destruktivitaet by Erich Fromm Rainer Funk
Autor:Erich Fromm Rainer Funk [Funk, Erich Fromm Rainer]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: isbn:978-3-95912-033-3
Herausgeber: Open Publishing Rights
veröffentlicht: 2016-01-13T16:00:00+00:00
11. Die bösartige Aggression: Grausamkeit und Destruktivität
Scheinbare Destruktivität
Von der Destruktivität unterscheiden sich erheblich gewisse tief verschüttete archaische Erlebnisse, die dem modernen Beobachter oft als Beweis für die angeborene Destruktivität des Menschen erscheinen. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass sie zwar zu destruktiven Handlungen führen, aber nicht von der Leidenschaft zu zerstören motiviert sind.
Ein Beispiel ist das leidenschaftliche Verlangen, Blut zu vergieÃen, das oft als âBlutdurstâ bezeichnet wird. Praktisch bedeutet das Blut eines Menschen vergieÃen, dass man ihn tötet, daher sind âtötenâ und âBlut vergieÃenâ synonym. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob es nicht eine archaische Lust am BlutvergieÃen geben könnte, die etwas anderes ist als die Lust am Töten.
Auf einer tiefen archaischen Erlebnisebene ist Blut âein ganz besonderer Saftâ. Ganz allgemein hat man es mit dem Leben und der Lebenskraft gleichgesetzt, und Blut ist eine der drei heiligen Substanzen, die dem Körper entstammen. Die beiden anderen sind der Samen und die Milch. Der Samen ist der Ausdruck des Männlichen, die Milch der weiblichen und âmütterlichenâ Schöpferkraft. Beides galt in vielen Kulten und Ritualen als heilig. Im Blut ist der Unterschied zwischen männlich und weiblich aufgehoben. In den tiefsten Erlebnisschichten bemächtigt man sich auf magische Weise der Lebenskraft selbst, indem man Blut vergieÃt.
Die Verwendung von Blut zu religiösen Zwecken ist wohlbekannt. Die Priester des Tempels in Jerusalem verspritzten das Blut der geschlachteten Tiere als gottesdienstliche Handlung. Die Priester der Azteken brachten ihren Göttern die noch klopfenden Herzen ihrer Opfer dar. In vielen rituellen Gebräuchen wird die Bruderschaft symbolisch dadurch bekräftigt, dass man das Blut der Beteiligten miteinander vermischt.
Da Blut der âSaft des Lebensâ ist, wird das Trinken von Blut häufig als eine Steigerung der eigenen Lebenskraft erlebt. In den Bacchusorgien wie auch in den Riten zu Ehren der Göttin Ceres gehörte es zu den Mysterien, das rohe Fleisch von Tieren zu essen und ihr [VII-244] Blut zu trinken. Bei den dionysischen Festen auf Kreta riss man mit den Zähnen das Fleisch vom Körper lebender Tiere herunter. Derartige Riten finden sich auch in den Kulten vieler chthonischer Götter und Göttinnen (J. Bryant, 1775). J. G. Bourke erwähnt, dass die Arier, als sie in Indien eindrangen, die eingeborenen Dasyu-Inder verachtet hätten, weil diese ungekochtes Fleisch von Menschen und Tieren aÃen, und dass sie ihren natürlichen Abscheu dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie sie âRohesserâ nannten.[244] Sehr eng verwandt mit diesem Trinken von Blut und Essen von rohem Fleisch sind Gebräuche, die von noch heute lebenden primitiven Stämmen berichtet werden. Bei gewissen religiösen Zeremonien müssen die Hamatsa-Indianer Nordwest-Kanadas ein Stück vom Arm, vom Bein oder von der Brust eines Menschen abbeiÃen.[245] Dass das Trinken von Blut als gesundheitsfördernd angesehen wird, ist selbst heute noch zu finden. In Bulgarien war es Sitte, einem Menschen, der einen heftigen Schrecken erlitten hatte, das noch zuckende Herz einer frisch geschlachteten Taube zu essen zu geben, um ihm auf diese Weise seinen Schrecken überwinden zu helfen (J. G. Bourke, 1913). Selbst in einer so hoch entwickelten Religion wie dem römischen Katholizismus finden wir noch den archaischen Brauch, den
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