Am Ufer by Paulo

Am Ufer by Paulo

Autor:Paulo
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2014-02-01T16:00:00+00:00


Mittwoch, 8. Dezember 1993

Als die Uhr der Basilika Mitternacht schlug, war die Gruppe um uns herum schon stark angewachsen. Wir waren fast hundert, unter uns auch Priester und Nonnen, die alle im Regen standen und auf das Bildnis schauten.

»Gegrüßt seist du, Heilige Mutter Maria der Unbefleckten Empfängnis!« sagte jemand neben mir, als der letzte Glockenton verklungen war.

»Gegrüßt seist du, Maria«, antworteten alle.

Ein Wärter stürzte herbei und bat uns, keinen Lärm zu machen, wir würden die anderen Pilger stören.

»Wir kommen von weit her«, sagte ein Mann aus unserer Gruppe.

»Die da auch«, antwortete der Wärter und wies auf die anderen Leute, die im Regen beteten. »Und sie beten schweigend.«

Ich hoffte inständig, daß der Wärter endlich gehen würde. Ich wollte allein mit ihm sein, weit von hier, seine Hände halten und sagen, was ich fühlte.

Wir mußten über das Haus reden, Pläne schmieden, über die Liebe reden. Ich mußte, was mich betraf, seine Zweifel zerstreuen, ihm meine Zuneigung zeigen, ihm sagen, daß er seinen Traum verwirklichen konnte – denn ich würde an seiner Seite sein und ihm helfen.

Dann entfernte sich der Wärter, und ein Priester begann leise den Rosenkranz zu beten. Als wir beim Credo angelangt waren, das die Reihe der Gebete abschließt, schwiegen alle mit geschlossenen Augen.

»Wer sind diese Leute?« fragte ich.

»Charismatiker«, sagte er.

Dieses Wort hatte ich schon gehört, wußte aber nicht genau, was es bedeutete.

»Das sind Leute, die das Feuer des Heiligen Geistes annehmen«, sagte er zur Erläuterung. »Das Feuer, das Jesus hinterlassen hat und an dem nur wenige ihre Kerzen angezündet haben. Es sind Leute, die der Wahrheit nahe sind, wie zu urchristlichen Zeiten, als alle noch Wunder tun konnten. Es sind Leute, die von der Frau im Sonnenmantel geführt werden.« Und er deutete mit dem Blick auf die Heilige Jungfrau.

Wie auf einen geheimen Befehl begann die Gruppe leise zu singen.

»Dir klappern ja die Zähne vor Kälte. Du brauchst nicht teilzunehmen«, sagte er.

»Bleibst du?«

»Ich bleibe. Dies ist mein Leben.«

»Dann möchte ich auch teilnehmen«, antwortete ich, obwohl ich lieber weit weg von dort gewesen wäre. »Wenn das deine Welt ist, möchte ich lernen, daran teilzuhaben.«

Die Gruppe sang immer noch. Ich schloß die Augen und versuchte der Musik zu folgen, obwohl ich nicht gut Französisch konnte. Ich sprach die Worte nach, ohne sie zu verstehen. Das ließ die Zeit schneller verstreichen.

Bald würde das hier zu Ende sein. Dann könnten wir endlich nach Saint-Savin zurückkehren, nur wir beide.

Ich sang mechanisch weiter. Ganz allmählich spürte ich, wie die Musik sich meiner bemächtigte, als hätte sie eigenes Leben, als könnte sie mich hypnotisieren. Ich spürte weder die Kälte noch den Regen – und dachte nicht mehr daran, daß ich keine Wäsche zum Wechseln dabeihatte. Die Musik tat mir gut, sie ließ meinen Geist fröhlich werden, trug mich in eine Zeit zurück, in der Gott mir näher war und mir geholfen hatte. Als ich mich fast ganz hingegeben hatte, verstummte die Musik.

Ich öffnete die Augen. Dieses Mal war es nicht der Wärter, sondern ein Pater, der wandte sich an einen Priester aus der Gruppe. Sie redeten leise miteinander, und der Pater ging wieder.



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