Abschied vom Kalten Krieg? by Jan Hansen

Abschied vom Kalten Krieg? by Jan Hansen

Autor:Jan Hansen
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: WDGO
veröffentlicht: 2016-07-15T00:00:00+00:00


2. Das Theorem der „Unregierbarkeit“ in den achtziger Jahren

Die SPD war in den frühen achtziger Jahren in beinahe allen wichtigen politischen Fragen zerstritten. Stets gab es zu dem, was eine Mehrheit für richtig hielt, eine lautstarke Minderheit, die genau jenes nicht wollte. Dass die SPD weit davon entfernt war, geschlossen aufzutreten, war typisch für ihr Erscheinungsbild im Nachrüstungsstreit. Nicht anders verhielt es sich, als junge, weibliche und linke SPD-Mitglieder darüber nachzudenken begannen, ob eine parlamentarische Mehrheitsentscheidung demokratisch legitimiert war, wenn auf den Straßen viele tausende Menschen protestierten. Konservative Sozialdemokraten befürchteten, dass die staatlichen Institutionen nicht mehr effektiv arbeiten oder dass das Land „unregierbar“ werden könnte. Diese Sorgen hatten ihre gedanklichen Wurzeln in den siebziger Jahren, als nicht nur Soziologen schon einmal „Unregierbarkeit“ diagnostiziert hatten.

Richard Löwenthal veröffentlichte 1981 in „Die Neue Gesellschaft“ einen Artikel über „Zukunft und Identität der SPD“.1554 Damit löste er einen Sturm der Entrüstung aus. Denn er argumentierte, dass die SPD außerparlamentarische Bewegungen nur integrieren könne, wenn sie ihre Identität aufgebe. Die neuen sozialen Bewegungen propagierten den Rückzug aus der Industriegesellschaft, stellten den Staat infrage und lehnten die Mehrheitsgesellschaft ab – in einem Satz: Sie kämpften gegen exakt jene Ziele, die den Kern der Sozialdemokratie ausmachten. Löwenthal betonte, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen der klassischen SPD-Klientel – den Facharbeitern – hier und den „alternative[n] Aussteiger[n]“ dort gebe.1555 Die SPD dürfe keinesfalls das tun, was für „die grüne und alternative Jugend“ typisch sei: sich von den Grundprinzipien der arbeitsteiligen Industriegesellschaft lossagen. Die Vorstellungswelt der „Aussteiger“ sei nicht „partizipatorisch“, sondern baue auf „eine Abkehr vom gesellschaftlichen Ganzen und damit auch von der Demokratie“. Der heftige Konflikt um die Thesen Löwenthals drehte sich nicht nur um das Verhältnis der SPD zu den neuen sozialen Bewegungen und darum, dass sich eine etablierte Partei durch außerparlamentarischen Protest herausgefordert fühlte.1556 Im Kern war er ein Streit um unterschiedliche Politikvorstellungen in der SPD.1557

Konservative Sozialdemokraten übten massive Kritik an den Partizipationsforderungen der neuen sozialen Bewegungen und den Teilen der SPD, die mit ihnen sympathisierten. Ihr Problem war es, dass sie im politischen Denken ihrer Parteifreunde kein konstruktives Argument finden konnten. Denn die Parteijugend wolle, wie Löwenthal behauptete, „unsere Gesellschaft nicht verändern, sondern sich aus der arbeitsteiligen Industriegesellschaft zurückziehen“.1558 Die Sozialdemokratie war im Verständnis Löwenthals aber „ein Produkt der Industriegesellschaft“, das „mit denen, die die moderne Welt für einen weltgeschichtlichen Irrweg halten, keinen Kompromiss schließen“ könne.1559 Die neuen sozialen Bewegungen und viele SPD-Mitglieder artikulierten eine „reaktionäre Utopie“ und eine „Illusion“. Sie bedrohten den Staat und die Demokratie, schrieb Löwenthal, denn „Dissidenz der Hälfte der heranwachsenden Generation von den Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres demokratischen Staates“ laufe im Endeffekt „auf eine Art von Sezession“ heraus.1560 Damit war das Problem aus Sicht der Befürworter des Doppelbeschlusses präzise beschrieben. In der Tradition von Daniel Bells 1976 erschienenem Buch „The Cultural Contradictions of Capitalism“ schloss Löwenthal von einer antiindustriellen Weltanschauung auf die Abkehr von der modernen Zivilisation.1561 Wenn jemand das kapitalistische Wirtschaftssystem negierte und postmaterialistische, insbesondere hedonistische Werte proklamierte, dann bedrohte er für Löwenthal den Staat und das Gemeinwesen.

Insbesondere die Angehörigen des rechten Parteiflügels teilten die Ansichten des Berliner Politikwissenschaftlers.



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