A bissel was geht immer. Unvollendete Erinnerungen by Helmut Dietl

A bissel was geht immer. Unvollendete Erinnerungen by Helmut Dietl

Autor:Helmut Dietl [Dietl, Helmut]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783462316513
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG


Nach einem glücklich bestandenen Abitur mit der Durchschnittsnote »gut«, das meiner Mutter nach all den Jahren zu einem erleichterten Ausatmen verhalf und mir das ebenso erleichternde Gefühl bescherte, einen Großteil meiner Schuldigkeit ihr gegenüber getan zu haben, wollte ich wieder etwas mehr Zeit für das Schreiben von Gedichten aufwenden. Die letzten vier Jahre im Alten Realgymnasium in Schwabing bewertete ich als Die schönste Zeit meines Lebens und verfasste unter diesem Titel das erste Gedicht eines Zyklus, der vage den Abschied von der Jugend und den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt thematisierte.

Aber über die zwei Strophen des nächsten Gedichts mit dem Titel Enttäuschung kam ich nicht hinaus. Eine sehr sachliche Benachrichtigung des Münchener Kreiswehrersatzamts brachte die Quellen meiner lyrisch-romantisch-melancholischen Ergüsse unverzüglich zum Versiegen. In dem Schreiben wurde ich unter Androhung von Strafe bei Nichtausführung angewiesen, mich am 1.10.1964 zum Wehrdienst bei der Ausbildungskompanie 10/12 des FschPzJgKp 260 in der Prinz-Eugen-Kaserne in Külsheim, Nordbaden, einzufinden. Ich war wie paralysiert.

Knapp zwei Jahre zuvor hatte mich dieselbe Behörde schon einmal schriftlich aufgefordert, zu einer Musterung zu erscheinen, die der Prüfung der gesundheitlichen und geistigen Tauglichkeit für den Wehrdienst dienen sollte. Man vermaß mich, wie alle anderen meines Jahrgangs auch, und kam zu dem Ergebnis, dass die von mir angegebene Körperlänge von hundertzweiundachtzig Zentimetern tatsächlich zutraf. Ähnlich war es beim Gewicht, wobei meine vierundsechzig Kilo als Idealgewicht eingestuft wurden. Gleichgewicht und Beweglichkeit, Augen und Ohren wurden geprüft, nach Geschlechtskrankheiten wurde gefragt, ebenso nach angeborenen, vererbten oder erworbenen Defekten. Es gab kaum einen Teil des Körpers, der nicht auf seine unbedingte Wehrdiensttauglichkeit überprüft wurde. Sogar die geistigen Kräfte kamen nicht zu kurz. Ob man lesen, schreiben und rechnen könne, lautete dazu die Frage eines Stabsarztes. Schneidig war sie von hundert Prozent der Wehrpflichtigen in spe mit »Jawoll« beantwortet worden. Damit waren nach dem Grundsatz »mens sana in corpore sano« die geistigen Fähigkeiten der Prüflinge überzeugend nachgewiesen.

Wenn man die Klassifizierungsnote Eins erhielt, durfte man sich wünschen, bei welcher Waffengattung man dienen wollte. Ich war stolz auf diese Note Eins – in der Schule nämlich brachte ich es im Fach Leibeserziehung nur zu einem »Befriedigend« – und antwortete dem Herrn Oberstabsarzt sogleich: »Fallschirmjäger!« Die in der Warteschlange hinter mir stehenden Kameraden brachen darüber in lautes, beifälliges Johlen und Klatschen aus. Mit geschwellter Brust hatte ich das Gebäude verlassen, die ganze Prozedur für ein eher lächerliches Ritual gehalten und dann meinen Ausflug in das Kreiswehrersatzamt, Abteilung Musterung, vergessen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.