Wo warst Du? - Ein Septembertag in New York by Anja Reich

Wo warst Du? - Ein Septembertag in New York by Anja Reich

Autor:Anja Reich
Die sprache: de
Format: mobi
ISBN: 9783492953818
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2011-09-28T06:04:38+00:00


Nach etwa einer Minute nehme ich den ersten vorsichtigen Atemzug. Ich ziehe den Staub durch die Zähne, und warte darauf umzufallen. Die verdammte Wolke steht. Es wird nicht heller.

Das ist mein Fegefeuer, denke ich. Sollte ich hier jemals herauskommen, gebe ich den Beruf auf, das schwöre ich. Das ist alles nichts für mich. Das Rumlungern, das Wegelagern, das Belästigen. Ich kümmere mich ab jetzt mehr um meine Familie. Vielleicht werde ich Lehrer, dann bin ich nachmittags zu Hause. Ich wollte doch immer Lehrer werden. Es ist nie zu spät für einen Neubeginn. Ich werde anfangen, etwas Nützliches zu machen, nicht nur vom Blut anderer zu leben wie ein Vampir. Was ich gerade erlebe, ist doch eine Parabel auf die Vermessenheit und Vergeblichkeit meines Berufes.

»Wo willst du denn hin, Junge?«

»Näher ran.«

Näher, immer näher. Ich muss, ich muss, ich muss. Am Ende steht man in einer kleinen, verlassenen Gasse zwischen Taubendreck und leeren Schnapsflaschen, von links und rechts rollen turmhohe Aschewolken heran. Wenn das die Antwort auf all die Fragen ist, die mich seit Jahren antreiben, dann habe ich sie verstanden, Gott. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr beichten.

Ich werde wieder öfter in die Kirche gehen, weil dort Frieden ist und Stille. Ich muss mich mehr um meinen großen Sohn kümmern, der in Berlin lebt, Flori. Ich werde von nun an nicht nur mit großen Geschenken vor seiner Tür stehen, sondern mit Zeit. Ich habe drei Kinder, alles Heiden. So war das auch nicht gedacht. Ich bin getauft, ich habe einen katholischen Kindergarten besucht und später acht Jahre lang einen katholischen Schulhort, ich war vier Jahre lang Ministrant in St. Joseph, Berlin-Weißensee, ich habe dort die Erstkommunion empfangen, ich habe gebeichtet, den Religionsunterricht besucht, bin gefirmt worden, und dann habe ich eine Heidin aus Lichtenberg geheiratet, auf dem Standesamt Mitte. Ich habe ihrem Großvater, einem ehemaligen Lehrer für wissenschaftlichen Kommunismus, auf unserer Hochzeit versprochen, sie glücklich zu machen. »Mach' meine Enkeltochter glücklich«, hat er mir zugeraunt, und mir dabei fast die Hand zerquetscht. »Versprochen«, habe ich gesagt. Noch ein Meineid. Seine Enkeltochter sitzt jetzt, da die Welt auseinander fällt, allein in der Küche in Brooklyn. Alles gelogen, denke ich, und höre dazu die Melodie eines Liedes von Heinz Rudolf Kunze. Das muss man sich mal vorstellen: Sie versprechen, dass dein Leben an dir vorbeizieht, wenn es zu Ende geht, und dann taucht der Großvater deiner Ehefrau auf, der wissenschaftlichen Kommunismus an der Fachhochschule für Bekleidungstechnik unterrichtete, und erinnert dich an dein Eheversprechen. Man erwartet das Requiem von Mozart, und dann singt Heinz Rudolf Kunze.



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