Was das Herz weiß by Langdale Kay

Was das Herz weiß by Langdale Kay

Autor:Langdale, Kay [Langdale, Kay]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-07-29T16:00:00+00:00


Achtes Kapitel

Felix

Ich weiß nicht, wie lange es her ist, seit der Unfall passiert ist. Seit Tagen stehe ich schon an ihrem Bett und wünsche mir, dass sie sich bewegt, die Augen aufmacht oder endlich selber wieder tief Luft holt, aber sie tut es nicht. Stattdessen liegt sie nur da, mucksmäuschenstill.

Sie sieht winzig aus, und das ist seltsam. Ich habe sie nie als klein empfunden. TickTock ist klein. Das Schränkchen unter der Stiege ist klein. Aber jetzt, wo sie sich nicht bewegt, sieht auch meine Mum klein aus. Ihre Beine und Arme sind dünn. Nur ihr Mund scheint noch die richtige Größe zu haben. Er ist voll und breit. Am Mundwinkel hat sie einen kleinen blauen Fleck, als hätte sie Brombeeren gegessen.

Die Reglosigkeit ist am schlimmsten. Das ist mir gestern klar geworden, als ich hier die ganze Besuchszeit über stand und mir nur wieder und wieder vorsagte: Bitte beweg dich, bitte beweg dich, wie eines ihrer Yoga-Mantras, wenn sie meditiert, so fest hab ich es mir gewünscht, ohne jedoch die Worte auszusprechen. Ich sehe sie nie ganz still, nie so wie jetzt, wo es wirkt, als würde sie am Meeresgrund liegen und schlafen. Sie ist immer so wach, immer wach, wenn ich wach bin. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal habe schlafen sehen.

Morgens, wenn ich zu Hause durch den Flur in ihr Zimmer gehe, hat es den Anschein, als hätte sie genau eine Sekunde bevor ich den Raum betrete, die Augen aufgemacht. Ihr Gehör muss unglaublich gut sein. Ganz gleich, wie leise ich gehe, sie ist schon wach, rekelt sich wie eine Katze, schiebt mit dem Arm all die Decken weg, unter denen sie schläft. Wenn Wochenende ist und ein Wintermorgen, geht sie oft nach unten, macht uns etwas zu trinken, und dann türmen wir ein paar Kissen am Kopf- und Fußende des Bettes auf und sitzen da, jeder auf einer Seite, die Fußsohlen aneinandergedrückt, und unsere Knie zeigen in die Höhe und bilden ein großes M. Ich trinke heiße Schokolade und sie grünen Tee. Sie hasst diesen grünen Tee. Sie trinkt ihn nur, weil sie glaubt, er tut ihr gut. Immer wenn sie einen Schluck nimmt, rümpft sie die Nase. Wenn ich unsere Tassen mit hinunter nehme, ist ihre oft noch mehr als halb voll.

An Schultagen ist sie immer schon vor mir wach. Mein Wecker klingelt, und wenn ich runterkomme, steht sie oft am Herd, mit dem Rücken zu mir, rührt in der Hafergrütze oder kocht uns Eier. Das Brot steckt im Toaster, und das Messer liegt bereit, damit sie kleine Reiterchen damit schneiden kann. Neben ihr auf der Arbeitsfläche hat sie die Zeitung aufgeschlagen, und wenn sie zu versunken liest, ist das Eigelb nur noch ganz unten im Ei wachsweich. Sie steht am Herd, die eine Fußsohle fest in die Innenseite ihres Oberschenkels gepresst. Ich muss an einen Flamingo denken, oder eine dieser unregelmäßigen Formen in Geometrie, bei denen man Flächen und Winkel ausrechnen muss.

Jetzt sieht sie so aus wie eine Art Experiment. Da sind so viele Kabel, die aus ihr herauskommen, so viele Schläuche.



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