Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung by Erich Fromm
Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 9783959121156
Herausgeber: Edition Erich Fromm
veröffentlicht: 2015-11-29T23:00:00+00:00
c) Methoden der Selbstanalyse
Um dem Thema „Selbstanalyse“ gerecht zu werden, müsste ich eigentlich ein ganzes Buch schreiben. Ich beschränke mich hier jedoch auf einige einfache Vorschläge. Um mit der Selbstanalyse überhaupt anfangen zu können, muss man gelernt haben, still zu werden, entspannt zu sitzen und sich zu konzentrieren. Sind diese Vorbedingungen einmal erfüllt – wenigstens ansatzweise –, so kann man auf verschiedene Weisen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, fortfahren.
(1) Man mag versuchen, sich jener Gedanken zu erinnern, die sich während des Versuchs, still zu werden, aufdrängten, sich auf sie einlassen und dann schauen, ob es eine sinnvolle Verbindung zu ihnen gibt und welcher Art diese sein könnte. Oder man kann bestimmte Symptome näher betrachten, etwa wenn man sich (trotz ausreichenden Schlafs) müde fühlt oder depressiv, oder wenn man Ärger spürt, um dann zu „ertasten“, worauf man mit diesem Gefühl wohl reagiert hat und welche unbewusste Erfahrung sich hinter dem manifesten Gefühl zu verbergen sucht. Ich sage absichtlich nicht, dass man darüber „nachdenken“ solle, denn mit theoretischen Gedanken bekommt man hier keine Antwort; bestenfalls führt dies zu theoretischen Spekulationen. Mit „Ertasten“ meine ich ein imaginatives Abtasten verschiedener möglicher Gefühle, bis man schließlich ein bestimmtes Gefühl mit Deutlichkeit als Wurzel der bewussten Wahrnehmung, etwa dass man müde ist, erkennt. Eine andere Möglichkeit zu verfahren, ist folgende: Man versucht, sich frühere Situationen derartigen Müdeseins vorzustellen, um dann zu fragen, ob man ihnen damals auf den Grund kam. Oder man stellt sich verschiedene Möglichkeiten vor, die der Müdigkeit zugrunde liegen könnten: etwa dass man eine schwierige Aufgabe aufgeschoben hat, statt sich ihr zu stellen, oder ein ambivalentes Gefühl gegenüber einer befreundeten oder geliebten Person, oder eine Kritik, die den eigenen Narzissmus so traf, dass man depressiv reagierte, oder dass in einer Begegnung die zur Schau gestellte Freundlichkeit dem anderen gegenüber nicht echt war.
Ein komplizierteres Beispiel ist das folgende: Ein Mann verliebt sich in eine junge Frau. Nach einigen Monaten fühlt er sich plötzlich müde, deprimiert, lustlos. Er ist nun versucht, alle möglichen rationalisierenden Erklärungen zu finden, wie etwa die, dass seine Arbeit nicht gut läuft (was in Wirklichkeit dieselbe Ursache haben mag wie seine Müdigkeit), oder dass er wegen der politischen Entwicklung enttäuscht und traurig ist. Vielleicht holt er sich auch eine starke Erkältung und findet so eine zufriedenstellende Antwort. Wenn er aber seinen eigenen Gefühlen gegenüber empfindsam genug ist, beobachtet er vielleicht, wie er in letzter Zeit immer mehr dazu neigt, sich an Kleinigkeiten seiner Freundin zu stoßen. Er erinnert sich vielleicht eines Traums, in dem sie ein hässliches Gesicht hatte und ihn betrog. Oder er mag bemerken, dass er vermehrt Gründe findet, einen geplanten Besuch zu verschieben, während er früher immer begierig war, sie zu treffen.
Auf Grund solcher und anderer kleiner Anzeichen merkt er, dass etwas in der Beziehung zu seiner Freundin nicht stimmt. Er setzt sich mit seinen Gefühlen auseinander, und es dämmert ihm, dass sich sein Bild von ihr verändert hat, dass er im ersten Aufblühen seiner erotischen und sexuellen Anziehung gewisse negative Züge nicht [XII-445] bemerkt hatte, während andererseits ihr süßes Lächeln jetzt berechnend und manchmal als kalt erscheint.
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