Sozialtheorie by Joas Hans- Knöbl Wolfgang

Sozialtheorie by Joas Hans- Knöbl Wolfgang

Autor:Joas, Hans- Knöbl, Wolfgang [Joas, Hans- Knöbl, Wolfgang]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sozialtheorie
Herausgeber: eBook Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-11-27T16:00:00+00:00


Soweit zur Giddensschen Handlungstheorie und ihren Spezifika. Mit dem letzten von uns genannten Merkmal sind wir nun aber auch schon an dem Punkt angelangt, von einer Theorie der Handlung zu einer Theorie der Ordnung überzugehen, also zu fragen, mit welchen Begrifflichkeiten sich die Verflechtungen von Handlungen mehrerer bzw. vieler Menschen fassen lassen. Die Besonderheiten der Giddensschen Ordnungstheorie sind folgende:

A) Giddens ist – wie schon angedeutet – Anti-Funktionalist, und zwar in einer radikalen Weise. Er hatte sich schon in den 1970er und frühen 1980er Jahren intensiv mit dem Funktionalismus auseinandergesetzt und sich dabei die wissenschaftstheoretischen Argumente gegen diese Art des Denkens zu eigen gemacht (siehe unsere Dritte Vorlesung). Er teilt die Kritik, wonach beim Funktionalismus ein merkwürdiges Ineinanderschieben von Ursachen und Wirkungen vorliege und in dieser Theorie Kausalverhältnisse suggeriert würden, die tatsächlich nicht vorhanden sind (Giddens, »Commentary on the Debate«). Aber er verläßt sich bei seiner Kritik nicht allein auf die Wissenschaftstheorie, sondern bietet auch empirische Argumente auf. So ist der Funktionalismus seiner Meinung nach deshalb falsch, weil er die Festigkeit sozialer Beziehungen und die diesbezügliche Machtlosigkeit der Akteure unterstellt. Giddens’ Idee der Strukturierung basiert gerade auf der gegenteiligen Beobachtung, nämlich darauf, daß die Akteure die Strukturen nicht nur reproduzieren, sondern auch produzieren und verändern. Die funktionalistische Rede von Systemen – so seine Kritik – unterstelle eine höchst fragwürdige Hyperstabilität sozialer Strukturen, eine Annahme, die 414durch nichts gerechtfertigt erscheine und zudem die Analyse historischer Wandlungsprozesse unnötig erschwere.

Das heißt aber nicht, daß Giddens den Begriff des »Systems« und dessen Verwendung in den Sozialwissenschaften vollkommen ablehnen würde. Giddens sieht sehr wohl, daß es in der sozialen Welt durchaus auch höchst stabile Handlungsmuster gibt, daß Akteure oder sogar Generationen von Akteuren immer wieder die gleichen Handlungen vollziehen und dadurch Gebilde von hoher Festigkeit schaffen, welche die Verwendung des Systembegriffs nahelegen und rechtfertigen. Daraus ist allerdings nicht zu schließen, daß alle sozialen Gebilde und Prozesse von derartiger Stabilität sind. Im Gegensatz zu Parsons, der einen analytischen Systembegriff verwendete, und zu Luhmann, der in essentialistischer Weise schlicht unterstellte, daß es Systeme gibt, und deshalb ohne weitere Rückversicherungen mit seinem funktionalistisch-systemtheoretischen Instrumentarium hantieren konnte, hat Giddens ein empirisches Verständnis von Systemen: Der Systembegriff ist danach nur verwendbar, wenn auch die empirischen Bedingungen so sind, daß man bei der Betrachtung eines sozialen Phänomens von einem hohen »Grad der Systemhaftigkeit« ausgehen kann. D. h. nur dann, wenn man wirklich genau und zweifelsfrei beobachtet, daß sich aus dem Zusammenhandeln Konsequenzen ergeben, die über Rückkopplungsschleifen wieder auf die Anfangsbedingungen des Handelns der Akteure zurückwirken und dann immer wieder die gleichen Handlungsformen auslösen, kann man wirklich von einem »System« sprechen. Derartige Systeme sind in der sozialen Wirklichkeit eher selten zu finden. Aber selbst dann gilt:

Soziale Systeme weisen, was den Grad ihrer »Systemhaftigkeit« anlangt, eine große Variationsbreite auf; bei ihnen findet sich kaum jenes Maß an interner Einheitlichkeit, wie dies für physikalische und biologische Systeme typisch ist. (Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 432)



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