Soldaten by Sönke Neitzel
Autor:Sönke Neitzel
Die sprache: de
Format: mobi, epub
ISBN: 9783104007922
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2011-04-19T22:00:00+00:00
Führerglaube
Am 22. März 1945 unterhalten sich Oberst Martin Vetter, Kommandeur des Fallschirmjägerregiments 17, und der Jagdflieger Anton Wölffen vom Jagdgeschwader 27 über den Nationalsozialismus. Beide sind wenige Tage zuvor gefangen genommen worden, der eine in Xanthen, der andere in Rheinberg. Für sie ist der Krieg zu Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen:
VETTER: Man kann über Nationalsozialismus denken, wie man will, Adolf Hitler ist der Führer und hat dem deutschen Volk bisher schon viel, unheimlich viel gebracht. Endlich konnte man wieder mal stolz sein auf das eigene Volk. Das darf man nie vergessen.
WÖLFFEN: Nichts, auch gar nichts kann man wegleugnen.
VETTER: Wenn ich auch überzeugt bin, dass er der Totengräber des Deutschen Reiches sein wird.
WÖLFFEN: Der Totengräber, ja.
VETTER: Ist er. Ganz ohne Zweifel.[566]
Ein bemerkenswertes Dokument: Der Führer, wie Adolf Hitler in sehr vielen Abhörprotokollen genannt wird, hat in der Sicht der beiden Sprecher, »dem deutschen Volk [...] unheimlich viel gebracht«, eine historische Tatsache, die nie zu »vergessen« bzw. »wegzuleugnen« sei. Diese Feststellung steht in merkwürdigem Gegensatz zu der gleichfalls unisono geäußerten Überzeugung, er sei »der Totengräber des Deutschen Reiches«. Können diese beiden scheinbar so gegensätzlichen Perspektiven in Deckung gebracht werden – oder sind die beiden Soldaten schizophren? Ganz sicher nicht; dieser kurze Dialog illustriert lediglich, was unter dem Begriff »Führerglaube« zu verstehen ist: Das Gespräch findet im März 1945 statt, zu einem Zeitpunkt, an dem die Niederlage nicht mehr in Frage steht. Seit 1943 hatten sich Zweifel an den militärischen Fähigkeiten Hitlers verbreitet. Trotz der sinkenden Siegeszuversicht blieben Führerglaube und Führerkult aber erstaunlich lange erhalten und konnten, wie das Beispiel zeigt, sogar durch den wahrscheinlichen Untergang des »Dritten Reiches« nicht revidiert werden. Das scheint schwer nachvollziehbar, wird aber erklärlich, wenn man die als enorm betrachteten außen- wie innenpolitischen Erfolge Hitlers in Rechnung stellt und die mit ihnen einhergehende Stilisierung des Führers als eines von der Vorsehung geschickten Heilsbringers, der das Versailler Unrecht aufgehoben habe und die (nichtjüdischen) Deutschen wieder »stolz« sein lassen konnte auf ihr Land.
Am 7. März 1936, drei Jahre nach der »Machtergreifung«, hatte Hitler im Reichstag selbst formuliert, dass in der kurzen Zeit seiner Regierung Deutschland seine »Ehre« zurückerhalten habe, »wiedergefunden einen Glauben, überwunden seine größte wirtschaftliche Not und endlich einen neuen kulturellen Aufstieg eingeleitet«.[567] Bei der Wahl am 29. März bekam die NSDAP 98,9 Prozent der Stimmen, und auch wenn dies keineswegs eine demokratische Wahl war, kann, wie Ian Kershaw schreibt, kein Zweifel daran bestehen, dass zu dieser Zeit die Mehrheit der Deutschen hinter ihrem Führer stand. Noch in der Erinnerung heutiger Zeitzeuginnen und -zeugen waren die sogenannten Friedensjahre des »Dritten Reiches« »gute« und »schöne« Zeiten, und tatsächlich waren die greif- und fühlbaren Leistungen, die dem Führer zugeschrieben wurden, beeindruckend: »Nach vier Jahren an den Hebeln der Macht«, schreibt Kershaw, »schien das Hitlerregime den meisten Beobachtern im In- und Ausland stabil, stark und erfolgreich. Hitlers persönliche Stellung war unantastbar. Das Image des großen Staatsmanns und genialen Führers der Nation, das die Propaganda aufgebaut hatte, deckte sich mit den Gefühlen und Erwartungen großer Teile der Bevölkerung. Der innere Wiederaufbau des Landes
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