Rote Zukunft by Spufford Francis

Rote Zukunft by Spufford Francis

Autor:Spufford, Francis [Francis, Spufford]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt - RoRoRo
veröffentlicht: 2013-07-24T16:00:00+00:00


3.

GEFÄLLIGKEITEN, 1964

Torero-Hosen waren in den östlichen Ausläufern des Ural schwer zu bekommen, und so trug Tschekuskin seine Anzughose kombiniert mit einem pflaumenfarbenen Hemd. Als Señora Lopez den Paso Doble in das Klavier des Kulturpalastes zu hämmern begann, spannte er seine Taille und setzte sich zusammen mit dem Rest des Kurses mit kurzen stampfenden Schritten in Bewegung. Sie tanzten über die aufgeworfene Bodenwelle bis zur anderen Seite des Saals und wieder zum Ausgangspunkt zurück. Darrarrum, darrarrum, darrarrum – machte das Klavier. Irgendwo tief unter ihnen war einer der Schächte, die Swerdlowsk untertunnelten, eingesackt und hatte die Gebäude darüber in unberechenbarer Weise gefaltet und gestreckt. Die Leute im Kurs waren daran gewöhnt und wogten wie eine Meereswelle über die Ausbuchtung im Parkett.

Darrarrum, darrarrum, darrarrum. Tschekuskin drehte sich geschickt mit zurückgeworfenem Kopf, und goldgerahmte Spiegel, ockerfarbener Stuck und das verwitterte Gesicht der Lehrerin am Klavier wanderten durch sein Blickfeld. Es musste seltsam für sie sein, dachte er, so weit weg von zu Hause; eine waschechte Spanierin, gestrandet in einer grobschlächtigen Stahlarbeiterstadt jenseits der Grenzen Europas. Er hatte ein paar Bruchstücke ihrer Biographie aufgeschnappt: Ehemann flieht vor den spanischen Faschisten; Ehemann macht rasch Bekanntschaft mit dem üblichen Schicksal ausländischer Kommunisten, die ihr Maul zu weit aufreißen; Deportation Richtung Osten; ein Vierteljahrhundert Musikunterricht; das Klavier im Kulturpalast.

Er sammelte solche Puzzlestücke, wann immer er konnte. Das war gewissermaßen sein Geschäft; sein Auskommen gründete sich auf das Aufschnappen von Nebensächlichkeiten wie diesen. Nicht um anschließend ein Urteil über die Leute zu fällen; es ging vielmehr darum herauszubekommen, worin der schnellste Weg bestand, sich die Sympathie der jeweiligen Person zu sichern, herauszufinden, was sie brauchte und was sie zu bieten hatte. Selbst ein wenig vielversprechender Kandidat konnte sich als jemand herausstellen, der – ohne es selbst zu wissen – den Schlüssel für das Problem einer anderen Person besaß.

Tschekuskin hatte die Erfahrung gemacht, dass es niemals Zeitverschwendung war, sich einen neuen Freund zu machen. Señora Lopez beispielsweise kannte ihn als weltmännischen, eifrigen Stammkunden ihres Kurses, ein wenig drollig wegen seiner geringen Körpergröße, aber ein wahrer Liebhaber des lateinamerikanischen Stils. Sie würde ihn nicht abweisen, wenn er – vorsichtig und mit angemessener Zurückhaltung – im Namen einer Bekannten, deren Ehemann auf seine Versetzung in die Karibik wartete, wegen Spanischstunden bei ihr anfragte. Als er das schließlich machte, kannte er gerade gar keine solche Person. Aber bereits morgen konnte sich das ändern oder übermorgen oder im nächsten Jahr – und jetzt befand sich eben in seinem Handelsbestand auch noch die spanische Sprache und wartete darauf, eingetauscht zu werden gegen etwas vollkommen anderes, so wie der Tango, der Rumba und der Cha-Cha-Cha. Tschekuskins kleine Füße flogen nur so dahin.

Nach der Stunde rubbelte er sich den Kopf ab und zog sein Alltagshemd wieder an, das lilafarbene packte er in die fast leere Aktentasche. Ein bisschen Pomade ins graue Haar; Krawatte, Jackett, Mantel, Schal, Handschuhe, Pelzhut – und raus in den Januarfrost. Es war bitterkalt, der Schnee der letzten Nacht schmiegte sich in hohen Wehen an die Häuserwände, und der bleifarbene Himmel schien mit noch mehr davon geschwängert zu sein.



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