Psychoanalytisches Menschenbild by Erich Fromm

Psychoanalytisches Menschenbild by Erich Fromm

Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 978-3-95912-143-9
Herausgeber: Edition Erich Fromm
veröffentlicht: 2016-01-28T23:00:00+00:00


Einleitung in E. Fromm und R. Xirau „The Nature of Man“

(Introduction in E. Fromm and R. Xirau „The Nature of Man“)

(1968g)[20]

Für die meisten Denker des griechischen Altertums, des Mittelalters, bis hin zur Zeit Kants war es selbstverständlich, dass es so etwas wie eine „Natur des Menschen“ gibt, also etwas, das – philosophisch gesprochen – das „Wesen“ des Menschen ausmacht.[21] Zwar gab es unterschiedliche Ansichten darüber, was zu diesem „Wesen“ gehört, doch war man sich darüber einig, dass es ein „Wesen“ gibt, das heißt etwas, was den Menschen zum Menschen macht.

Vor einhundert Jahren, oder sogar schon früher, begann man, diese herkömmliche Ansicht in Frage zu stellen. Ein Grund hierfür war die intensivere Erforschung der menschlichen Geschichte. Die Untersuchungen zur Entwicklung der Menschheit zeigten, dass sich der Mensch unserer Epoche so sehr vom Menschen früherer Zeiten unterschied, dass die Annahme, es gäbe eine sich durch alle historischen Epochen durchhaltende „Natur des Menschen“, unrealistisch wurde. Die historischen Forschungen wurden in unserem Jahrhundert vor allem durch kulturanthropologische Untersuchungen vertieft. Die Erforschung der sogenannten primitiven Völker hat eine solche Vielfalt unterschiedlicher Sitten, Werte, Empfindungen und Gedanken ans Licht gebracht, dass viele Anthropologen zu der Auffassung gelangten, der Mensch werde als ein unbeschriebenes Blatt Papier geboren, auf das die jeweilige Kultur ihren Text schreibe. Zu den Auswirkungen der Untersuchungen zur Geschichte und zur Kulturanthropologie kam der Einfluss der Evolutionstheorie. Auch sie erschütterte den Glauben an eine allgemeine „Natur des Menschen“. Jean-Baptiste de Lamarck und Charles Darwin vor allem, aber auch andere Biologen haben nachgewiesen, dass alle Lebewesen evolutionäre Veränderungen erfahren. Schließlich konnte die moderne Physik zeigen, dass auch die physikalische Welt Evolutionen und Veränderungen unterliegt. Es ist keine bloße Metapher, wenn wir sagen, dass die Totalität der Welt eine Totalität in Bewegung ist, die sich – wie Alfred North Whitehead sagen würde – in einem Zustand des „Prozesses“ befindet.

Noch ein anderer Faktor trug zu der Tendenz bei, das Vorhandensein einer festgelegten menschlichen Natur, eines Wesens des Menschen zu verneinen: Der Begriff der [IX-376] menschlichen Natur wurde so oft missbraucht und als Schild benutzt, hinter dem die schlimmsten Ungerechtigkeiten begangen wurden, dass wir bei seiner Erwähnung geneigt sind, seinen moralischen Wert ernsthaft zu bezweifeln, ja sogar ihn für sinnlos zu halten. Unter Berufung auf die Natur des Menschen haben Plato, Aristoteles und die meisten Denker bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein die Sklaverei verteidigt. (Ausnahmen waren bei den Griechen die Stoiker, welche von der Gleichheit aller Menschen überzeugt waren, sowie in der Renaissance Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus oder Juan Luis Vives.) Unter Berufung auf eine solche „Natur des Menschen“ entstanden der Nationalismus und der Rassismus. Und unter Berufung auf die angebliche Überlegenheit der arischen Natur haben die Nationalsozialisten mehr als sechs Millionen Menschen umgebracht. Unter Berufung auf einen bestimmten abstrakten Begriff von menschlicher Natur fühlt sich der Weiße dem Farbigen, der Mächtige dem Hilflosen und der Starke dem Schwachen überlegen. Der Begriff der „menschlichen Natur“ musste bis in unsere Tage nur allzu oft für die Zwecke von Staat und Gesellschaft herhalten.

Muss man deshalb zu dem



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