On se left you see se Siegessaeule - Erlebnisse eines Stadtbilderklaerers by Tilman Birr

On se left you see se Siegessaeule - Erlebnisse eines Stadtbilderklaerers by Tilman Birr

Autor:Tilman Birr
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Manhattan
veröffentlicht: 2012-01-27T05:00:00+00:00


Keen Service

Dauernd erzählte ich den Touristen von historischen Gebäuden, von denen ich einige aber selbst noch nie betreten hatte, und so hatte ich mir vorgenommen, mindestens einmal in der Woche mir selbst Nachhilfeunterricht zu geben. Ich führte ein kleines Oktavheft, in das ich die wichtigsten Daten der Gebäude eintrug, nebst ihrer Besonderheiten. Bereits vermerkt waren:

Marienkirche: Totentanz, Fresko aus dem 15. Jahrhundert

Marstall: Reliefdarstellungen der Novemberrevolution, 1988

Und seit Kurzem stand darin auch: Tiergarten: Da war ja gar nichts.

Diesmal stand die Hedwigskathedrale auf der Liste. Hauptkirche der paar Berliner Katholiken, 18. Jahrhundert, blabla, Vorbild war das Pantheon in Rom, ezeddera, im Krieg _______ und danach _______ . Is klar, ne.

In Berlin ist einiges andersherum als woanders. Das Tragen eines Anzuges bringt einem nicht Respekt ein, sondern schiefe Blicke. Oberlippenbärte gelten in einigen Milieus als erfrischende modische Neuerung, und Ort der kirchlichen Pracht sind nicht die katholischen Kirchen, sondern der protestantische Berliner Dom. Die Hedwigskathedrale versprüht eher den kargen IKEA-Charme einer evangelischen Neubauviertelkirche der Sechzigerjahre. Bomber-Harris war der SED um ein paar Jahre voraus und hatte schon 1943 per Brandbombe für eine innenarchitektonische Säkularisierung gesorgt. In den Bischofskirchen von Köln, Regensburg oder Massa Marittima konnte man Stunden zubringen. Die Hedwigskathedrale dagegen ist schnell erklärt. Man wirft einen Blick hinein, denkt »Aha, verstanden!« und kann wieder gehen.

Ich machte einmal die Runde, um vielleicht doch noch eine Nische mit einem einbalsamierten Bischof im Glaskasten, einem Steißbeinknochen eines Heiligen oder einer mit einer Bibelszene bemalten Holztafel eines Brandenburger Künstlers des 14. Jahrhunderts zu entdecken. Am Beichtstuhl brannte Licht, und die Vorhänge waren zugezogen. Do not enter! Absolution in progress! Ein donnernder Sternburgbass drang heraus.

»Na ja, dit war halt schwierig. Zu dem Zeitpunkt hatten wir ja schon den Termin in der Abtreibungsklinik. Und da wollt ich dann auch nicht wieder absagen. Wär für die Klinik ja auch doof gewesen.«

Aha.

Außer mir war nur noch ein altes Mütterchen in der Kirche, das schon seit Minuten vor der Madonna kniete und ganz woanders war. Ich ging weiter. Bank, Bank, Säule, Fenster. Geländer, Lautsprecher, Mikroständer. Der Raum hatte etwas von der Aula einer Gesamtschule. Zwei Flachbildschirme standen an den Seiten, mit denen wahrscheinlich die Nummern der zu singenden Lieder aus dem Gesangbuch angezeigt wurden. Hey, Flachbildschirme! Die Kirche ist nämlich doch nicht so unmodern, wie es immer heißt. Mit ihren Flachbildschirmen lockt sie die »Kids« wieder in den Gottesdienst, und wenn sie brav waren, dürfen sie sich auch schon mal einen Jesuszeichentrickfilm auf einem dieser neumodischen Dinger ansehen. Der Pfarrer ist da gar nicht so.

»Ja. Jaja, dit kann schon sein«, kam es wieder aus dem Beichtstuhl. »Aber kannste mir jetzt mal von meinen Sünden freisprechen. Dit wär echt, icksarema, richtig geil.«

Kerzenständer, Blumengesteck, Bank. Wenn so der katholische Himmel aussah, konnten sich die Katholiken den Stress mit dem Dogma auch sparen und sich gleich im alten Tempelhofer Flughafengebäude in die Wartehalle setzen.

»Ick wollte mich da nur absichern, weil, wer weiß, was passiert. Ick hab dit ja schon mal erlebt: Auf einmal haben andere Leute das Sagen, und die erzählen dir dann, was du dein Leben lang falsch gemacht hast.



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