Mama, sind wir bald da? by Pia Volk

Autor:Pia Volk
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Herder
veröffentlicht: 2014-08-14T16:00:00+00:00

»DAS KENNE ICH

VON MEINEM NINTENDO«

Japan und die verkehrte Welt

»The Strangers« steht auf dem Schild, das gleich am Eingang des Yoyogi-Parks in Tokio steht. Auf dem Asphalt dahinter zelebriert eine Gruppe von Rockabillys ein kleines Open-Air-Ritual: gegelte Haare, eng anliegende Jeans, Stiefel, die mit Gaffa-Tape verstärkt wurden, und Lederjacken. Sie stehen im Kreis, so, wie man es von esoterischen Hippieveranstaltungen gewohnt ist. Ich warte darauf, dass jemand sagt: »Wir lieben uns«, und dabei die Hände beschwörend in die Luft hebt und der Kreis ruft: »Yes, o Herr.« Stattdessen krächzt japanischer Rock’n’Roll aus den Boxen hinter den Rockabillys und die Jungs beginnen, mit den Hüften zu kreisen, als seien sie Reinkarnationen von Elvis. In ihrer Mitte steht der Meistertänzer, springt in die Luft, landet im Spagat, ölt sein Ego. »Geht man hier nicht in der Disco tanzen?«, fragt mein Freund, aber ich zucke nur mit den Schultern. Woher sollte ich das auch wissen?

Wir spazieren weiter durch den Park und kommen vorbei an Pantomimendarstellern, Robotermenschen und einsamen Gitarrenspielern. In der Mitte, irgendwo zwischen Bäumen und Gestrüpp hüpft ein Mädchen mit langen blauen Haaren auf und ab. Sie trägt ein blaues Kleid in der exakt gleichen Farbe. Dazu hat sie schwarze Kniestrümpfe an, wie sie Fußballer tragen, und blaue Turnschuhe. Auf ihren Ohren sitzt ein Kopfhörer, und sie springt und dreht sich nach einer festen Choreografie. Hinter ihr stehen ein Wesen im Ganzkörperteddybärkostüm und ein Junge in rotem Minirock mit einer weißen Perücke. Sie alle machen die gleichen Bewegungen, nur zeitversetzt. Anscheinend haben sie ihre Musik nicht zur selben Zeit gestartet. »Die sehen aus wie Pokémons in echt«, sagt Paul. Da ist er mit dem Verstehen schon weiter als ich. Ich weiß nicht mal, was Pokémons sind. Na klar, ich habe den Namen schon gehört und weiß, dass es sich um komische Figuren mit Superkräften handelt, die ihre eigene Fernsehserie haben und von denen es unendliche viele Sammelkarten gibt, aber da hört mein Wissen auch schon auf. »Pokémons kann man sammeln und trainieren«, sagt Paul. »Und warum?«, frage ich. »Na ja, weil es Spaß macht«, antwortet er. »Aha«, sage ich und ich höre mich an wie Paul, wenn ich versuche, ihm die Erwachsenenwelt zu erklären.

Paul und ich sind gemeinsam mit einem Freund in Japan unterwegs. Aus keinem besonderen Grund. Mein Freund wollte schon immer mal nach Japan und fand, dass ich eine der besten Reiseleiterinnen sei, die er sich vorstellen könne. Japan ist das erste Land, in dem ich niemanden kenne. Keine Freunde von Freunden, keine Journalistenkollegen, keine Uni-Weggefährten. Wir sind jetzt echte Touristen. Und noch etwas ist neu: Paul hat einen Nintendo dabei, muss sich auf langen Zugstrecken nicht mehr mit Bilderbüchern beschäftigen. Japan macht uns sprachlos. Auf den Philippinen und Palau konnten wir uns jedenfalls noch bruchstückhaft verständigen, weil Englisch zweite Amtssprache ist (zumindest inoffiziell), aber hier verstehen wir nur noch »so-so-so« und »hei-hei«, Verbeugung und Lächeln. Worte enden auf -iwa und -kun. Es hat System, aber wir können keinen fragen, was für eines. Wenn es um Wissen und Verständnis geht, sind wir Erwachsenen auf dem gleichen Stand wie Paul, wenn überhaupt.

Download

Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.