Macht der Kapitalismus depressiv?. Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften by Martin Dornes
Autor:Martin Dornes [Dornes, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104037844
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Die Ursachen und Folgen der Nostalgie
Wie kann man die oben skizzierte Vergangenheit als wunderbar idealisieren? Indem man sie nur selektiv zur Kenntnis nimmt, die politisch-kulturell restaurativen Elemente dieser Zeit ausblendet und die sozioökonomischen Bedingungen idealisiert (Rödder 2014). Das geht so: Damals waren die Wachstumsraten hoch, die Arbeitslosigkeit niedrig, die Gewerkschaften stark, die Familien stabil, die Demographie günstig und der Staat interventionistisch. Das zählt. Der interessierte Leser konsultiere dazu das Buch von Streeck (2009; zur Familie den Aufsatz von 2011). Bei aller Differenziertheit suggeriert es immer wieder, dass Regulierung und Formierung »gut«, Deregulierung und Liberalisierung aber »schlecht« sind. Die Sehnsucht nach der traditionellen, »formierten« Familie wird maskiert – sie wäre für einen Linken auch gar zu konservativ –, schimmert aber durch die Zeilen des Textes oder findet in abwegigen Polemiken gegen den Feminismus Ausdruck, etwa wenn ihm Naivität vorgeworfen wird, weil er es als Fortschritt betrachtet, die »dekommodifizierte« weibliche Hausfrauentätigkeit durch die »kommodifizierte« weibliche Erwerbstätigkeit ersetzt zu haben. Man fragt sich nur: Wie kommt es, dass bei sicheren Arbeitsverhältnissen, stabilen Ehen und dekommodifizierter weiblicher Arbeit die Selbstmordraten, der Pro-Kopf-Alkoholkonsum, die Krankschreibungen und die Invaliditätsberentungen stiegen (1950–1980), bei unsicheren aber sanken (1980ff.)? Und wie kann man das vergessen?
Unter anderem dadurch, dass man das sogenannte »Normalarbeitsverhältnis«, also die unbefristete Vollzeitstelle sozialversicherungspflichtig Beschäftigter und die unbegrenzte Dauerunterstützung bei Arbeitslosigkeit zum Maß aller Dinge verklärt und Abweichungen davon zu neoliberalen Verirrungen (für eine andere Sicht siehe z.B. Münch 2001; 2002, S. 431f.; 2009, passim). Fortschritte zählen nicht, nicht die in der Familie und nicht einmal die einfach feststellbaren im Wirtschaftsleben, wie etwa der umfassend verbesserte Arbeitsschutz, der Rückgang der Arbeitszeit, der Arbeitsunfälle, der Krankmeldungen, der Frühverrentungen sowie die Zunahme der bezahlten Urlaubstage.
Die relative Abnahme der unbefristeten Vollzeitstellen von damals 83% auf heute 68% wird häufig als Zerfall phantasiert, obwohl zwischen 1949 und 1973 fast die gesamte Bauernschaft verschwand, ohne dass deswegen die Gesellschaft zerfallen ist. Verkannt wird auch, dass die häufig als prekär bezeichneten Teilzeitarbeitsplätze von gut 80% ihrer Inhaber als solche gewünscht werden und sie gerade nicht mehr arbeiten wollen. Vergessen wird weiter, dass in Deutschland mehr als 85% aller Arbeitsverhältnisse bei über 25-Jährigen unbefristet sind. Und nicht hinreichend gewürdigt wird, dass die Flexibilisierung der Arbeit neue Arbeitsplätze geschaffen hat, die weder überwiegend »Schrottarbeitsplätze« sind noch alte sichere in neue unsichere umgewandelt hat. Man schaut nur auf die Abnahme des Normalarbeitsverhältnisses und leitet daraus seine »Erosion« ab (differenzierter z.B. Steuerwald 2016, S. 199ff.), obwohl es dieses Modell ohnehin nur 15 Jahre lang gegeben hat – nämlich zwischen 1958, dem ersten Jahr der Vollbeschäftigung in der Nachkriegszeit, und 1973, der sogenannten Ölkrise. Es war also gar nicht normal, sondern historisch gesehen die Ausnahme. Die historische Normalität waren schon immer flexible Beschäftigungsverhältnisse (Pierenkämper 2009).
Die diesbezügliche historische Amnesie zeigt sich auch in aufgeheizten politisch-medialen Debatten um Leiharbeit und Werkverträge, die zu erheblichen Wahrnehmungsverzerrungen beitragen. Ihr Umfang wird dadurch enorm überschätzt. Eine einschlägige repräsentative Befragung aus dem Jahr 2013 ergab, dass 70% der Befragten meinten, in Deutschland seien zwischen 20% und 35% aller Arbeitsverhältnisse Leiharbeitsverhältnisse. In Wirklichkeit waren es im Jahr 2012 gerade einmal 2% (bezogen auf die Gesamtzahl von 42 Millionen Erwerbstätige) bzw.
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