Kleine Abschiede by Tyler Anne

Kleine Abschiede by Tyler Anne

Autor:Tyler, Anne [Tyler, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


* * *

Vanessa sagte, Joel Miller sei der bedauernswerteste Mann, den sie kenne. »Seit seine Frau weggegangen ist, kommt der arme Kerl kaum über die Runden«, erzählte sie Delia.

»Gibt’s in Bay Borough eigentlich keine einzige glückliche Ehe?« wunderte sich Delia.

»Doch, ‘ne Masse«, sagte Vanessa. »Du hast nur noch keine kennengelernt.«

Sie saßen am folgenden Morgen, einem kalten sonnigen Samstag, in Vanessas Küche. Eigentlich war es die Küche ihrer Großmutter; Vanessa und ihre sämtlichen drei Brüder wohnten bei ihrer Großmutter väterlicherseits. Vanessa beschriftete mit einem alten Stahlfederhalter Etiketten. Höchst wirksames Insektenvertreibungsmittel, schrieb sie in haarfeiner Schrift auf elfenbeinfarbene ovale Schildchen. Das wirksame Mittel war ein altes Familienrezept. Wenn Vanessa ihre tägliche Menge Etiketten fertig hatte, klebte ihr jüngster Bruder sie auf schlanke Glasröhrchen, in denen verschiedene eingelegte Kräuter und Beeren geheimnisvoll hin und her gluckerten. Delia konnte sich schwerlich vorstellen, wie man davon leben konnte, aber offensichtlich konnten das die Linleys. Ihr Haus war groß und gemütlich, und die Großmutter leistete sich einmal im Jahr eine Reise nach Disneyland. Vanessa erklärte, das Geheimnis sei Flohkraut. »Sag es nicht weiter«, verriet sie Delia, »aber Insekten hassen Flohkraut. Die anderen Kräuter sind hauptsächlich Dekoration.«

Auf dem Fußboden baute Greggie einen Turm aus Flaschenkorken. Wenn Vanessa mit ihren Etiketten fertig war, wollten sie und Delia mit ihm zum Weihnachtsmann gehen. Danach wollte Delia einige Weihnachtseinkäufe machen. Oder vielleicht auch nicht; sie wußte es noch nicht. Eigentlich hatte sie Weihnachten nie gemocht; zu sehr drohte die Gefahr, den geheimen Wünschen ihrer Familie nicht gerecht zu werden, und dieses Jahr würde schlimmer denn je. Vielleicht sollte sie die ganze Geschichte einfach übergehen? Oh, warum gab es keine festen Verhaltensregeln für weggelaufene Ehefrauen?

Womit sie wieder bei Mr. Miller war. »Wieso hat seine Frau ihn verlassen, weiß man das?« fragte sie Vanessa.

»Oh, klar, alle wissen das. Eigentlich lebten sie seit Jahren nicht schlecht zusammen, süßer kleiner Junge, nettes Haus, und eines Tages, vergangenen Frühling, stellte Ellie einen Knoten in der Brust fest. Ging zum Doktor, und der meinte, ja, sieht nach Krebs aus. Also geht sie nach Hause und erklärt ihrem Mann: ›In der Zeit, die ich noch habe, möchte ich aus meinem Leben das Beste machen. Ich möchte genau das tun, wovon ich schon immer geträumt habe.‹ Und bis zum Abend hatte sie ihre Sachen gepackt und war weg. Das war ihr größter, innigster Wunsch, hast du so was schon mal gehört?«

»Wo steckt sie jetzt?«

»Oh, sie ist die Fernsehwetterfrau drüben in Kellerton«, sagte Vanessa. »Der Knoten war gar nichts; sie haben ihn mit örtlicher Betäubung rausoperiert. Jetzt können Mr. Miller und Noah sie jeden Abend im Fernsehen bewundern. Vielleicht hast du sie auch in Neues aus der Nachbarschaft gesehen. Vergangenen August haben sie ein Porträt von ihr gebracht. Hübsche Blondine. Haar wie das Strohzeug, mit dem wir unsere Flaschen verpacken. Hier hat das keinen vom Hocker gerissen — Frau, die ihr eigenes Kind verläßt.«

Delia sah in ihren Schoß.

»Alle Frauen in der Stadt haben versucht, Mr. Miller zu helfen«, sagte Vanessa. »Haben Lasagne herübergebracht, sein Kind nachmittags genommen. Aber ich



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