Kanzlerdämmerung · Wer zu spät kommt, darf regieren by Rupps Martin

Autor:Rupps, Martin [Rupps, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
ISBN: 9783280056455
Herausgeber: Orell Füssli
veröffentlicht: 2017-04-07T00:00:00+00:00

»Rot-Grün kam, als es schon nicht mehr passte.«

Peter Glotz

Willkommen im Leben

Gerhard Schröder und Joschka Fischer

A

m Anfang steht ein Superlativ: Kein Kabinett davor und danach führt so viele spannende Lebenswege zusammen wie das von Gerhard Schröder. Diese politischen Biografien gründen in der Aufbauleistung der Generation Konrad Adenauer und ihrer Fortsetzung durch die Generation Helmut Schmidt. (Willy Brandt gehört nicht in die Aufzählung, weil er als Person Epochales leistet, nicht als Protagonist seiner Generation. Helmut Kohl gehört ebenfalls nicht hinzu, weil seine Generation die Arbeit der Generation Helmut Schmidt fortführt.)

Der neue Bundeskanzler, Jahrgang 1944, kommt aus einfachen Verhältnissen, seine verwitwete Mutter ging putzen, um ihre Kinder durchzubringen. Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer, Jahrgang 1948, beginnt politisch als Sponti und wird wichtigster Politiker der Grünen. Er macht sie zunächst auf Länderebene und dann im Bund regierungsfähig. Innenminister Otto Schily hat einmal als Anwalt von Gudrun Ensslin, eine Terroristin der RAF, verteidigt und den Staat für angeblich inhumane Haftbedingungen kritisiert.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Entwicklungshilfeministerin im neuen Kabinett, ist als »rote Heidi« (wegen ihrer roten Haare) eine der unartigen Jungsozialistinnen aus der ersten Hälfte der siebziger Jahre, die Helmut Schmidt wegen »Visionen« zum Arzt schickt.

Mit Herta Däubler-Gmelin kommt schon die zweite Frau dem Kerngeschäft des Regierens bedrohlich nahe. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war Justizministerin im vierten Kabinett Kohl, allerdings nicht von ihm, sondern vom Koalitionspartner benannt. Diesmal hat der Bundeskanzler selbst die Parteifreundin berufen.

Gerhard Schröder steht persönlich für die Bildungschancen in diesem jungen, freien Staat, denn Abitur macht er erst auf dem zweiten Bildungsweg. Joschka Fischer und Otto Schily stehen für die Aussöhnung einer gesellschaftlichen Gruppe mit dem Staat, die in den Siebzigern eine ziemlich kritische Auffassungen über diesen Staat hatten.

Auch durch die generationale Brille betrachtet macht das neue Kabinett Eindruck. Finanzminister Oskar Lafontaine hat einmal die Sekundärtugenden der Generation Helmut Schmidt kritisiert. Joschka Fischer repräsentiert eine Partei, deren Mitglieder der damalige Bundeskanzler und Protagonist seiner Generation, Helmut Schmidt, wie gehört »Umweltidioten« nannte. Dass Frauen und Männer mit so bunten Lebenswegen im ersten Kabinett Schröder zusammenfinden, nachdem sie von einer Mehrheit der Deutschen die Lizenz zum Regieren erhielten, ist eine deutsche Erfolgs-, weil Konsensgeschichte. Es ist eine politisch-kulturelle Leistung von hohen Graden – allerdings um den Preis zweier schicksalhafter Verspätungen, denn es brauchte sechzehn Jahre mit einem Bundeskanzler Helmut Kohl, bis die Deutschen seiner überdrüssig waren und Rot-Grün Vertrauen schenkten. Und es braucht acht Jahre und drei Kandidaten, bis die Generation Schröder übernehmen kann.

Die Tragik charismatischer Figuren ist, dass sie mit dem Tag der Wahl ihre wichtigste Rolle für das politische System, mit ihrer Berufung ein Land freier und offener zu machen, erfüllt haben. Die Wahl des unehelichen Kindes und Exilanten Willy Brandt zum Bundeskanzler bedeutet einen Markstein der westdeutschen Demokratie, genauso wie die Wahl des vaterlos groß gewordenen, erst auf dem zweiten Bildungsweg erfolgreichen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. (Barack Obama erhält, kaum im Amt, den Friedensnobelpreis für die politisch-kulturelle Leistung seines Volkes, das ihn zum Präsidenten gemacht hat. Mit jedem Tag, da Barack Obama sein schwieriges Amt tatsächlich ausübt, schwindet der Glanz seiner Persönlichkeit ein wenig mehr.)

Die neue Bundesregierung nimmt ihre Arbeit mit viel Testosteron im Blut auf.

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