Ich bat den Himmel um ein Leben Eine Mutter erzählt ihre Flucht aus Nordkorea by Lucia Jang

Ich bat den Himmel um ein Leben  Eine Mutter erzählt ihre Flucht aus Nordkorea by Lucia Jang

Autor:Lucia Jang [Jang, Lucia]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Knaur Verlag
veröffentlicht: 2017-04-20T00:00:00+00:00


Eines Tages gelang es mir während einer Pflanzsaison, in der nicht viel angepflanzt wurde, bis Mittag den gesamten Tofuvorrat meiner Mutter zu verkaufen. Ich beschloss, nachmittags eine Freundin aus der Nachbarschaft zu besuchen, die geheiratet hatte und in ein nahe gelegenes Dorf gezogen war.

Rina war jünger als ich und größer als die meisten Männer. Sie hatte einen langen Hals und schneeweiße Zähne. Ihre Sprechweise war sanft, und irgendwie erinnerte sie mich immer an ein Reh.

Sie führte mich in das Hinterzimmer ihres kleinen, düsteren Hauses, in dem es trotz der warmen Außentemperatur kühl war. Sie beugte sich so nah zu mir, dass ich ihren Atem riechen konnte, und berichtete mir flüsternd: »Ich habe gehört, dass wir in China Fisch gegen andere Lebensmittel eintauschen können. Wir können den Fisch in Chongjin kaufen. Dann fahren wir nach Samjang. Wir überqueren den Fluss Tumen, gelangen nach Adong in China, klappern die Häuser ab und verkaufen den Fisch gegen Getreide und weißen Reis. Wir können über den Fluss nach China und zurück gelangen, ohne erwischt zu werden. Viele Menschen tun dies jetzt.«

Ich holte tief Luft und legte die Hand auf den Mund. Ich zog Rina so nah heran, dass sich unsere Wangen berührten. »Und was passiert, wenn man erwischt wird?«

»Bisher wurde niemand erwischt«, flüsterte sie. »Du solltest mit mir kommen«, drängte sie mich. »Du kannst deine gesamte Familie damit satt kriegen.«

Der Komiteeführer, der das Verhalten meiner Familie und unserer Nachbarn in dreißig weiteren Häusern überprüfte, hatte mir vor kurzem erklärt, dass ich entweder heiraten oder eine feste Arbeit finden müsste. Doch meine Mutter kränkelte, und selbst, wenn ich zur Arbeit ginge, wären die Lebensmittelrationen kärglich. Unsere einzige Chance bestand darin, dass ich bei meiner Mutter blieb und ihr half, das zu verkaufen, was sie kochte. Sie würde es sonst auch um den Preis ihrer Gesundheit ohne mich tun.

Ich wollte auf keinen Fall wieder mit einem Mann zusammen sein, das hatte ich mir geschworen. Der Sinn meines Lebens bestand darin, meiner Mutter zu dienen und diese Hungersnot, die immer mehr Opfer forderte, zu überleben. Auch die beste Freundin meiner Mutter, eine scheue Frau, wurde dahingerafft und hinterließ acht Kinder. Ich lebte für den Tag, an dem Sungmin mich suchen würde, wie die Wahrsagerin mir vorausgesagt hatte. Wenn ich wieder eine Arbeit aufnehmen musste, konnte ich auch nicht mehr Wurzeln und Kräuter für uns besorgen. Das Leben in Nordkorea war schrecklich. Wenn ich in ländliche Gegenden kam, entdeckte ich Kinder, die in Tierabfällen nach Maiskörnern oder sonstigen essbaren Teilen suchten, die sie im Fluss abwuschen und dann verzehrten.

Ich hatte Angst, wusste aber, dass ich Rinas Vorschlag annehmen musste.



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