Gebranntes Kind sucht das Feuer by Cordelia Edvardson

Gebranntes Kind sucht das Feuer by Cordelia Edvardson

Autor:Cordelia Edvardson
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Annie Ernaux, Auschwitz, Auslöschung, Berlin, Dreißiger, Holocaust, Israel, Judentum, jüdisch, Konzentrationslager, Marguerite Duras, Memoir, Mutter, Mutter-Tochter, Schweden, Shoah, Theresienstadt, Tove Ditlevsen, Überleben, Verfolgung, weibliche Perspektive, Weiblicher Blick, Wiederentdeckung
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2023-03-15T00:00:00+00:00


23

Marek und Halinka — vor allem Halinka. Die ersten Menschen, die das Mädchen sah und — in Halinkas Fall — vielleicht auch liebte, als sie aus der großen Dunkelheit aufstieg, die sie zu verschlucken drohte. Marek und Halinka, die sie fanden, sahen und bestätigten, die ihr die Kraft und den Willen zum Leben und Atmen gaben und ein menschliches Gesicht, die ihre steif gefrorene Seele und ihr Herz auftauten.

Von der Zugfahrt nach Theresienstadt erinnerte sich das Mädchen anschließend an nichts als die Qual im Gesicht des blassen, bärtigen kranken Mannes. Er lag auf dem Boden (waren es da bereits Güterwaggons oder noch gewöhnliche Züge?), und er und sein Katheter waren der verängstigten und unbeholfenen Obhut des Mädchens anvertraut worden.

Die Dunkelheit bei der Ankunft wird vom grellen Licht der Bogenlampen zerschnitten. Die SS-Offiziere brüllen ihre Befehle: Wertgegenstände und Geld müssen ausnahmslos sofort abgegeben werden, jeder Verstoß wird streng geahndet. Das Mädchen hat große Angst; als sie in der Schlange bei den langen Tischen ankommt, wo weibliche Häftlinge das Gepäck der Neuankömmlinge durchsuchen und sie abtasten, reicht sie ihnen gehorsam ihr verstecktes Silberkreuz. Zu ihrer Überraschung darf sie es behalten, vielleicht war es nur versilbert, jedenfalls hat sie jetzt ein reines Gewissen. Ohne zu zögern, überlässt sie ihre Handtasche der Frau am Tisch, die mit einer routinierten Bewegung das Innenfutter aufschlitzt und zum unverstellten Staunen und Entsetzen des Mädchens aus einem Versteck zwischen dem Futter und der Pappe mehrere Bündel mit Hundertmarkscheinen und einige eng beschriebene Zettel herauszieht. Die Frau ruft einen SS-Mann herbei, der den unmittelbaren Transport des Mädchens ins Gefängnis von Theresienstadt anordnet. Wahrscheinlich ist das der Moment, in dem die Dunkelheit das Mädchen verschlingt.

Sie ist nicht nur krank vor Angst angesichts der unbekannten, unabwendbaren Strafe, sondern weiß insgeheim auch, dass diese Strafe nicht ganz unverdient kommt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung vom Geld und von den Papieren in der Handtasche, das ist wahr, aber wahr ist auch, dass sie die Tasche unerlaubt vom Dachboden des Jüdischen Krankenhauses mitgenommen hat. Das Krankenhauspersonal hatte hin und wieder den Dachboden durchsucht, wo die hinterlassenen Habseligkeiten von verstorbenen oder verschwundenen Patienten aufbewahrt wurden, man fand immer etwas, das man gebrauchen konnte. Das Mädchen hatte sich dort die Tasche genommen und ihr erstes Paar hochhackige Schuhe. Die Tasche, erzählte jemand, habe einer Frau gehört, die »auf Transport gehen« sollte, aber in letzter Minute einen Suizidversuch unternommen habe und im Jüdischen Krankenhaus gestorben sei. Doch das Mädchen wusste schon, dass es eigentlich verboten war, Sachen vom Dachboden zu nehmen. Die Strafe war, wieder einmal, zumindest teilweise verdient, sie hatte versagt, es war ihre Schuld, der Fehler lag bei ihr.

Als sie ihre Geschichte in vielen langen Verhören dem traurigen, freundlichen, alten jüdischen Mann erzählte, der als Untersuchungsrichter von Theresienstadt diente, glaubte man dem Mädchen schließlich. Man hatte auch einige Beweise für ihre Unschuld gefunden: Die Tasche war ursprünglich mit Initialen aus Messing versehen gewesen, die das Mädchen abgetrennt hatte, weil sie mit keinem seiner eigenen Namen übereinstimmten, doch der Abdruck war noch im Leder zu sehen.



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