Einführung in die Erzähltheorie by Matías Martínez Michael Scheffel

Einführung in die Erzähltheorie by Matías Martínez Michael Scheffel

Autor:Matías Martínez,Michael Scheffel
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406638619
Herausgeber: Verlag C.H. Beck


c) Die doppelte Zeitperspektive des Erzählens

Wer narrative Texte liest, tut etwas scheinbar Paradoxes, denn er nimmt das dargestellte Geschehen zugleich als offen und gegenwärtig und als abgeschlossen und vergangen auf. Vergangen erscheint das Geschehen, insofern es von Anfang an als abgeschlossenes Ganzes aufgefasst und im Präteritum erzählt wird, als chronologische Gestalt, in welcher bereits der Anfang sinnhaft auf das Ende bezogen ist. Als gegenwärtig und offen nimmt der Leser das Geschehen auf, insofern er die Figuren als in das Geschehen der erzählten Welt verstrickte Personen versteht und ihre Agentenperspektive nachvollzieht. Er sieht sie dann in Entscheidungssituationen gestellt und als potentiell Handelnde in eine offene Zukunft blickend, die sie ihren Wünschen, Kenntnissen und Möglichkeiten gemäß zu beeinflussen suchen, ohne sie doch mit Gewissheit steuern oder vorhersagen zu können. Mit den Worten des aufklärerischen Ästhetikers Johann Jakob Engel gesagt, ist dem Handelnden «die Handlung allererst im Werden begriffen, und die Zukunft ist für ihn wirklich noch Zukunft, mit allem ihrem trüben und ungewissen Nebel umgeben» (Engel, Handlung, S. 254). Wenn wir Leser die Figuren als Handelnde verstehen, setzt das voraus, dass wir uns Geschehensverläufe vorstellen, die alternativ zu dem stehen, was tatsächlich in der erzählten Welt eintritt.

Dass man sich das Geschehen und die Figuren der erzählten Welt nach dem Muster unserer eigenen Wirklichkeitserfahrung vorstellt, scheint jedenfalls plausibel zu sein bei Werken, deren erzählte Welten sich in ihren Kriterien des Möglichen, Wahrscheinlichen und Notwendigen nicht sehr von unserer Wirklichkeit unterscheiden. Gilt diese Haltung aber auch im Falle von phantastischer Literatur, von Märchen oder von Fabeln – das heißt bei Werken mit erzählten Welten, die offensichtlich nach ganz anderen als den uns aus unserer eigenen Lebenswelt vertrauten Gesetzen und Regeln funktionieren? Mindestens in einer zentralen Hinsicht dürfte jeder narrative Text etwas mit unserer alltäglichen Lebenswelt gemeinsam haben: Wir nennen einen Text erst dann narrativ, wenn das dargestellte Geschehen nicht nur Geschehnisse enthält, sondern auch von Handlungen menschlicher oder anthropomorpher Agenten mit verursacht wird. Das Verwittern eines Gesteins oder Wolkenbildungen am Himmel kann man nicht, in einem normalen Sinn des Wortes, ‹erzählen› – es sei denn, man anthropomorphisierte das Geschehen und verliehe ihm so die intentionale Qualität von Handlungen. Der Begriff der Handlung wiederum setzt den offenen Möglichkeitshorizont des Handelnden voraus, angesichts dessen er sich zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten entscheidet. Der Handelnde unterstellt eine kausale Beeinflussbarkeit des künftigen Geschehens durch «sinnvolle Spontaneität», und zwar in der Überzeugung, «daß der projizierte Zustand durch in die Außenwelt eingreifende Leibbewegungen herbeizuführen ist» (Schütz/Luckmann, Strukturen, Bd. 1, S. 52). Beides, die offene Zukunft und ihre kausale Beeinflussbarkeit, ist analytisch im Begriff der Handlung enthalten: Zu handeln setzt voraus, dass man vor dem Horizont einer offenen Zukunft zwischen verschiedenen Handlungsentwürfen wählt und dass man den gewählten Handlungsentwurf in einen praxisbezogenen Kontext kausaler Regeln einbettet. Dieser Begriff der Handlung dürfte als «unbefragter Boden der natürlichen Weltanschauung» (ebd., S. 25) eine anthropologische Konstante jeder menschlichen Lebenswelt darstellen. Weil narrative Texte Darstellungen menschlicher Handlungen sind, müssen wir als Leser den offenen Möglichkeitshorizont der Protagonisten rekonstruieren, um ihre Handlungen als Handlungen überhaupt verstehen zu können.



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