Drei Tage, zwei Frauen, ein Affe und der Sinn des Lebens by Notebaert Karolien

Autor:Notebaert, Karolien [Notebaert, Karolien]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2022-05-09T00:00:00+00:00

Wir waren am Fuße des Scarr Mountain angekommen. Die Sonne zeigte sich von ihrer besten Seite und ließ die Landschaft hell erleuchten. Alles wirkte frisch und satt und grün. Marie streckte die Arme aus und strotzte nur so vor Ausgelassenheit und Freude.

»Heißt das also, dass Louise nicht viel Erfolg im Leben haben wird, weil sie das Grissini aufgegessen hat, ohne auf das zweite zu warten?«

»Nein, ganz so schlimm ist es nicht«, meinte ich. »Erstens hatte ich es ja nicht korrekt wie ein Experiment aufgebaut, und zweitens macht es natürlich einen Unterschied, dass ich ihre Mama bin und keine neutrale Person, die ihr die Knabberstange gegeben hat. Aber selbst wenn sie in einem echten Experiment das Marshmallow gegessen hätte, würde ich mir keine Sorgen machen.«

»Aber hast du nicht gerade gesagt, dass Kinder, die geduldig abwarten konnten, erfolgreicher durchs Leben gingen?«

»Ja, aber das ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Wie gesagt, alle Menschen werden mit einem gewissen Grad zur Selbstregulation geboren. Manche können sich von Natur aus sehr gut selbst regulieren, andere finden das herausfordernder. Alle befinden sich jedoch irgendwo auf dieser Skala. Und erfreulicherweise ist die Selbstregulation auch eine Fähigkeit, die wir aufbauen und verbessern können.«

»Und wie?«, hakte Marie nach.

»Um das zu verstehen, müssen wir uns noch einmal anschauen, wie das Gehirn funktioniert«, schlug ich vor. »Die meisten unserer inneren Hemmschuhe, die uns bei der Potenzialentfaltung behindern, werden von einer zu starken Aktivierung des emotionalen Systems im Gehirn hervorgerufen, dabei müssen wir uns die Amygdala näher betrachten, die wir für unser physisches Überleben, für unser emotionales Leben und für die Bildung unserer emotionalen Erinnerungen brauchen. Eigentlich haben wir zwei Amygdalae, sprechen aber meist nur im Singular von ihr, also Amygdala, selbst wenn wir beide Gehirnhälften meinen. Eine starke Aktivierung der Amygdala steht in Verbindung mit negativen Gedanken und Gefühlen, mit Stress und Aufregung in Situationen, die eigentlich keine wirkliche Gefahr darstellen.«

»Wie allein schon der Gedanke an Schlangen oder daran, auf der Bühne zu stehen?«

»Ja, Lampenfieber ist ein gutes Beispiel dafür. Einen Vortrag zu halten oder ein Lied auf der Bühne zu singen stellen keine tatsächliche Gefahr dar. Dennoch erzählt uns der Affe – ohne dass wir das bewusst wahrnehmen –, dass wir uns nicht vor anderen blamieren wollen oder dass wir einfach nicht gut genug sind … Die Angst vor der sozialen Blamage ist ein sehr großer Hemmschuh.«

»Und da wir das nicht erleben wollen, bereitet sich unser Körper auf einen Kampf vor oder auf die Flucht, oder wir erstarren. Entsprechend fangen wir an zu schwitzen, haben ein flaues Gefühl im Magen oder unsere Hände zittern«, vervollständigte Marie die Beschreibung.

»Manchmal kann diese Stressreaktion so heftig ausfallen, dass Menschen einen Blackout haben oder auch den Liedtext vergessen«, erklärte ich weiter.

»Wie kommt es denn dazu?«

»Für Herausforderungen, die mit einer Darstellung unseres Potenzials verbunden sind, brauchen wir einen völlig anderen Teil unseres Gehirns – den präfrontalen Kortex im vorderen Teil. Er befasst sich mit den ausführenden Funktionen, wie der Planung und Organisation unseres Verhaltens, unserer Zielerreichung, der Nutzung unseres Arbeitsgedächtnisses, mit Lösungsfindung, Entscheidungen oder Priorisierung, um nur einige Beispiele zu nennen.

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