Die soziale Struktur der Globalisierung by Bernd Hamm
Autor:Bernd Hamm
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Globalisierung
Herausgeber: Homilius
veröffentlicht: 2006-03-14T23:00:00+00:00
7.
Wirtschaft
Bernd Hamm und Lydia Krüger
7.1 Zur Theorie wirtschaftlicher Institutionen2
Die Wirtschaft soll unseren Austausch mit der Natur so organisieren, dass alle Menschen ein „menschenwürdiges“ Leben fristen können, ohne dass dadurch die langfristige Leistungsfähigkeit der Natur beeinträchtigt wird (was nur eine andere Formulierung der Definition von Nachhaltiger Entwicklung ist, wie sie die Brundlandt-Kommission gegeben hat, → Kap. 1.3.2). Die Frage, die hier zu untersuchen ist, lautet, ob die vorhandenen wirtschaftlichen Institutionen geeignet und in der Lage sind, diese Aufgabe zu erfüllen.
Heute stehen sich zwei einander widersprechende Theorien des Wirtschaftens gegenüber: die Theorie der Marktwirtschaft auf der einen, die Theorie des Kapitalismus auf der anderen Seite.
Die Theorie der Marktwirtschaft beruht auf der These, dass die Maximierung der individuellen Einzelnutzen „automatisch“ den Gesamtnutzen, den Nutzen für alle maximiere (Adam Smith). Der Einzelne möge also, möglichst unbehelligt vom Staat, seinen egoistischen Interessen nachgehen, die „invisible hand“ wird schon dafür sorgen, dass daraus der größtmögliche Vorteil für alle wird. Deswegen braucht man Rechte gegen den Staat, vor allem die Handelsund Gewerbefreiheit, die Vertragsfreiheit, die Eigentumsfreiheit, die Niederlassungsfreiheit, die Berufsfreiheit, jene Rechte also, die das Bürgertum in der Französischen Revolution dem Absolutistischen abtrotzte. Der Staat ist nun vor allem dazu da, diese Freiheiten zu garantieren („Nachtwächterstaat“). Staatsversagen3 liegt vor, wenn er dies nicht leistet.
Tatsächlich herrschte in Europa bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine nahezu unbeeinträchtigte Ideologie des „laissez faire, laissez aller“. Steuern waren unbedeutend, individuelles und kollektives Arbeitsrecht unbekannt, Gewerkschaften gab es nicht, von Mindestlöhnen, von sozialer Sicherung war keine Rede. Die frühen Formen des Kapitalismus setzten sich keineswegs durch, weil sie „den Menschen gemäß“ gewesen oder allen Wohlstand gebracht hätten. Sie wurden vielmehr gewaltsam durchgesetzt und führten zu grauenhaftem und massenhaftem Elend4: Kinderarbeit von zwölf Stunden täglich, mittlere Lebenserwartungen von wenig über dreißig Jahren, acht Menschen in einem Raum, mehr einem finsteren Loch zusammengepfercht, Hunger, Dreck und
Seuchen. Sozialwissenschaftler haben sich freilich mehr für den wundersamen Fortschritt interessiert und dafür den „freien Unternehmer“ gepriesen und hatten für die Opfer selten viel mehr als ein paar Zeilen5. Erst dann kam mit der Einführung der Sozialversicherung am Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Element dazu, zweifellos in erster Linie deshalb, damit die Marx’sche Prognose der Verelendung des Proletariats nicht eintreffe und somit kein Anlass zu revolutionären Gelüsten bestehe. Damit waren nicht etwa der Klassencharakter der Gesellschaft und die Rolle des Staates darin verändert, sondern im Gegenteil gerade bestätigt.
Nach 1945 hat die Ideologie, den damals vorherrschenden sozialdemokratischen Konzepten folgend, eine wohlfahrtsstaatliche Version erlebt, in Deutschland als „soziale Marktwirtschaft“ bekannt. Sie zog die Lehre aus der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, die in den Nazismus geführt hatte und wies dem Staat eine aktive Rolle für die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft zu: Vollbeschäftigung sollte sein wichtigstes Ziel, antizyklisches Ausgabenverhalten sein wichtigstes Instrument sein („Keynesianismus“). Den Höhepunkt dieser Entwicklung haben wir in Deutschland mit der Regierung von Bundeskanzler Willy Brandt (1969-74) erlebt, die die sozialen Sicherungssysteme entschieden ausgebaut hat, im Kalten Krieg auf Entspannung setzte und politisch „mehr Demokratie wagen“ wollte. Mit der ersten Ölpreiskrise zerplatzte dieser „kurze Traum immerwährender Prosperität“1. Sogleich begann der Versuch, diese Politik für die einsetzende Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen2 3.
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