Die Mandarins von Paris (German Edition) by Simone de Beauvoir
Autor:Simone de Beauvoir [Beauvoir, Simone de]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
ISBN: 9783644031111
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2013-09-30T22:00:00+00:00
Als er zwei Stunden später vor dem Mietshaus, in dem Lambert wohnte, die Taxe verließ, trat Nadine aus dem Einfahrtstor heraus. Herzlich lächelte sie ihn an. Sie war der Meinung, dass sie die bessere Rolle in ihrer Geschichte gehabt hatte, und sie war jetzt immer sehr freundlich zu ihm.
«Sieh an, du bist auch hier! Es ist verrückt, wie man sich um das liebe Waisenkind drängt!»
Henri schaute sie leicht entrüstet an: «Besonders komisch ist diese Geschichte nicht.»
«Wozu so viel Getue machen, weil dieser alte Lump tot ist?», sagte Nadine und zuckte die Achseln: «Ich weiß gut, meine Rolle wäre es, die barmherzige Schwester und Trösterin zu spielen. Aber ich kann nicht. Heute war ich ganz wurmstichig von lauter guten Vorsätzen: Und da kommt dieser Volange hier an. Ich bin schnell abgehauen.»
«Volange ist oben?»
«Aber ja. Lambert sieht ihn oft», sagte sie, ohne dass Henri feststellen konnte, ob sich hinter ihrem lässigen Ton eine Bosheit versteckte.
«Ich gehe trotzdem hinauf», sagte Henri.
«Dann viel Vergnügen.»
Langsam stieg er die Treppe hoch. Lambert sah Volange oft. Warum hatte er ihm das nicht erzählt? «Er fürchtet, dass ich mich darüber ärgere», dachte er. Es ärgerte ihn tatsächlich. Er klingelte.
Lambert lächelte ihm ohne Begeisterung zu: «Ah, du bist’s. Das ist nett …»
«Was für ein glücklicher Zufall», sagte Louis. «Monate ist es her, seit man sich gesehen hat.»
«Monate!» Henri wandte sich Lambert zu. Er sah sehr nach Waise aus in seinem Flanellanzug mit dem schwarzen Kreppstreifen auf dem Revers. Es war ein Anzug, dessen klassische Eleganz Herr Lambert gewürdigt hätte: «Du hast vielleicht im Augenblick keine große Lust zum Weggehen», sagte er, «aber heute Nachmittag findet bei Dubreuilh eine wichtige Zusammenkunft statt. Der Espoir wird Beschlüsse fassen müssen – Es wäre mir sehr recht, wenn du mich begleiten würdest.»
In Wirklichkeit brauchte er Lambert nicht, aber er wollte ihn aus seinen Grübeleien reißen.
«Eigentlich steht mir der Kopf nicht danach», sagte Lambert. Er warf sich in einen Sessel und fuhr mit düsterer Stimme fort: «Volange ist sicher, dass mein Vater nicht verunglückt ist. Er wurde umgebracht.»
Henri zuckte zusammen: «Umgebracht?»
«Die Wagentüren öffnen sich nicht von selbst», sagte Lambert, «und er hat keinen Selbstmord begangen, nachdem er soeben freigesprochen worden war.»
«Entsinnst du dich der Geschichte mit Molinari, zwischen Lyon und Valence?», sagte Louis. «Und der von Piéral? Auch sie sind kurz nach ihrem Freispruch aus einem Zug gefallen.»
«Dein Vater war alt und müde», sagte Henri. «Die Aufregung, die der Prozess für ihn bedeutete, ist ihm vielleicht zu Kopf gestiegen.»
Lambert schüttelte den Kopf: «Ich werde es erfahren, wer das getan hat!», sagte er. «Ich werde es erfahren.»
Henris Hände krampften sich zusammen; das war es, was seit acht Tagen schmerzlich in ihm bohrte: dieser Verdacht! «Nein», sagte er sich flehentlich, «nicht Vincent! Weder er noch ein anderer!»
Molinari und Piéral – das war ihm einerlei; und vielleicht war der alte Herr Lambert genauso schuftig wie sie gewesen, doch er sah es zu genau vor sich, dieses Gesicht, das auf dem Schotter verblutete: ein gelbes Gesicht, das Augen von einem erstaunten Blau heller wirken ließen – es durfte nur ein Unglück sein.
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