Die Kunst der Erinnerung by Patrick Modiano

Autor:Patrick Modiano [Modiano, Patrick]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2015-04-23T16:00:00+00:00

Meine Stadt find ich wieder, mir zum Weinen vertraut

Wie ein kindliches Fieber, wie Äderchen, Haut.

Petersburg! […]

Denn du hast meine Nummern, Telephone, Nachricht.

Petersburg! Denn ich hab noch Adressen auf mir,

Wo ich Tote noch finde, ihr Stimmengewirr.

Ja, mir scheint, beim Stöbern in diesen alten Pariser Adressbüchern habe ich Lust bekommen, meine ersten Bücher zu schreiben. Es genügte, mit dem Bleistift den Namen eines Unbekannten zu unterstreichen, seine Adresse und seine Telefonnummer, und sich vorzustellen, wie sein Leben ausgesehen haben mochte, unter diesen Hunderttausenden von Namen.

Man kann sich verirren in einer großen Stadt oder verschwinden. Man kann sogar seine Identität wechseln und lebt ein neues Leben. Man kann sich auf eine sehr lange Suche machen, um die Spuren eines Menschen wiederzufinden, auch wenn man am Anfang bloß ein oder zwei Adressen hat, in einem verlorenen Viertel. Der knappe Hinweis, der manchmal auf Fahndungskarteikarten steht, hat bei mir immer ein Echo gefunden: Letzter bekannter Wohnsitz. Die Themen Verschwinden, Identität, vergehende Zeit sind eng verbunden mit der Topographie großer Städte. Darum waren sie seit dem 19. Jahrhundert oft die Domäne der Romanciers, und einige der größten von ihnen sind mit einer Stadt verbunden: Balzac und Paris, Dickens und London, Dostojewski und Sankt Petersburg, Tokio und Nagai Kafū, Stockholm und Hjalmar Söderberg.

Ich gehöre zu einer Generation, die unter dem Einfluss dieser Romanciers gestanden hat und die ihrerseits erkunden wollte, was Baudelaire »die gewundenen Falten der alten Hauptstädte« nannte. Natürlich, seit fünfzig Jahren, das heißt, seit der Zeit, als Jugendliche meines Alters beim Entdecken ihrer Stadt sehr starke Empfindungen verspürten, haben diese sich verändert. Einige, in Amerika und in der einst so genannten Dritten Welt, sind »Megapolen« von beängstigenden Ausmaßen geworden. Ihre Bewohner leben abgesondert in häufig verwahrlosten Vierteln und in einem Klima des Krieges zwischen den Gesellschaftsschichten. Die Slums breiten sich immer weiter aus wie Tentakel. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatten die Romanciers noch ein gewissermaßen »romantisches« Bild von der Stadt, nicht unähnlich dem eines Dickens oder Baudelaire. Und darum möchte ich gerne wissen, wie die Romanciers der Zukunft diese gigantischen urbanen Zusammenballungen in fiktionalen Werken schildern werden.

Sie waren so zuvorkommend und haben, meine Bücher betreffend, »die Kunst der Erinnerung, mit der die unfassbarsten menschlichen Schicksale geschildert werden«, erwähnt. Aber dieses Kompliment geht über meine Person hinaus. Diese besondere Erinnerung, die all das zu sammeln versucht, ein paar Überreste der Vergangenheit und die wenigen Spuren, die anonyme und unbekannte Menschen auf Erden hinterlassen haben, sie hängt ebenfalls mit meinem Geburtsdatum zusammen: 1945. 1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, hat mich wahrscheinlich, wie andere meines Alters, empfänglicher gemacht für die Themen Erinnern und Vergessen.

Leider, so scheint mir, kann die Suche nach der verlorenen Zeit nicht mehr mit der Kraft und mit der Geradheit Marcel Prousts unternommen werden. Die Gesellschaft, die er beschrieb, war noch stabil, die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Prousts Erinnerung lässt die Vergangenheit in ihren kleinsten Details auferstehen, wie ein Tableau vivant. Ich habe den Eindruck, dass die Erinnerung heute ihrer selbst viel weniger sicher ist und dass sie unaufhörlich ankämpfen muss gegen die Amnesie und gegen das Vergessen.

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