Die dunklen Seiten der Empathie by Breithaupt Fritz

Die dunklen Seiten der Empathie by Breithaupt Fritz

Autor:Breithaupt, Fritz
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag


2. Deutschland, Weltmeister der Empathie:

Angela Merkel und die Flüchtlinge

Wir sollten es nicht unterschätzen: Deutschland ist im Jahre 2015 zur Empathie-Nation Nummer 1 geworden – dank Angela Merkel. So wie die Nation 2006 ein Sommermärchen erlebte und während der Fußball-Weltmeisterschaft ein neues Selbstverständnis gewann und feierte, so gab es 2015 den Herbst der Willkommenskultur. Als in der Nacht vom 4. zum 5. September der Beschluss von Ungarn, Österreich und der Bundesrepublik gefasst wurde, die größtenteils via Türkei und Griechenland nach Europa kommenden Flüchtlinge nach Deutschland passieren zu lassen, war offenbar die Entscheidung für eine offene Grenze gefallen. Oder zumindest wurde in dem Moment die historische Tragweite der bereits gefallenen Vorentscheidungen sichtbar. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Und inwiefern spielte Empathie eine Rolle in diesem Entscheidungsprozess?

Man kommt hier nicht umhin, über eine einzige Person zu reflektieren: Angela Merkel. Es ist nicht anzunehmen, dass eine andere politische Persönlichkeit in Deutschland diese Entscheidung getroffen und durchgestanden hätte – obwohl sich natürlich Politiker einer Reihe von Parteien hinter Merkel gestellt haben. Und außer der schwedischen Regierung ist keine andere Regierung der Welt ein derartiges Risiko eingegangen. Asyl und Immigration sind in vielen Ländern der Welt ein zentrales Thema, das die Menschen 141bewegt, was sich etwa in der österreichischen Präsidentenwahl und der Brexit-Abstimmung in Großbritanien im Juli 2016 niedergeschlagen hat. Was wissen wir also über Angela Merkel?

Es gibt hier natürlich eine lange Vorgeschichte. Es ist hier nicht falsch, an die deutsche Schuld und den Holocaust zu erinnern. Auch nach drei Generationen gibt es keine einfache Position zum Erbe der Schuld. Schlicht abwehren oder gar leugnen kann man das Nachwirken der Schuld auf jeden Fall nicht.

Die Bilder der zerstörten syrischen Städte und der Flüchtlingsströme rufen zudem auch Erinnerungen an die deutschen Kriegsvertriebenen am Ende des letzten Weltkrieges auf. Damals wurden viele Millionen Deutsche zu Flüchtlingen (und natürlich ebenso die Menschen vieler anderer Nationen, angefangen mit den Bewohnern der Sowjetunion). Auch meine Generation (geboren 1967) wuchs noch im Schatten der Kriegsvertriebenen auf, die in zahlreichen Erzählungen und Tischgesprächen präsent waren. Es sei nur kurz angemerkt, dass der semantische Unterschied zwischen »Vertriebenen« und »Flüchtlingen« die Vertriebenen begünstigt: sie sind passiv Opfer, es ist nicht ihre Schuld, während die »Flüchtlinge« ja aktiv handeln – auch wenn dahinter dieselbe politische Ausgangssituation steht.

Sicherlich ist es auch angebracht, an die Solvenzkrise Griechenlands seit 2013 zu erinnern, in der Angela Merkel zum Gesicht und zur ungeliebten Führungsfigur der Europäischen Union aufstieg. In ihrer halb strengen, halb nachgiebigen Position gegenüber Griechenland wurde sie zur Projektionsfläche zahlreicher Anfeindungen. Sie wurde in den nordeuropäischen Ländern als zu weiblich und weich angeprangert, in den südeuopäischen Staaten dagegen wurde sie als Karrikatur preußischer Kälte, als Hitler-Nachfolgerin, als gefühllose Prinzipienreiterin und Frau ohne Herz dargestellt. Wir dürfen annehmen, dass öffentliche Personen wie Politiker eine dicke Haut gegenüber heftiger Kritik entwickeln. Doch unverwundbar ist niemand. Gerade Politiker, die ja professionell in Beliebtheitswettbewerben stehen, träumen wohl davon, positiv wahrgenommen zu werden. Insofern gibt es auch hier die Möglichkeit eines nachträglichen Merkelschen Kompensationsbedürfnisses.

Schließlich sind inmitten der deutschen Gesellschaft neue Realitäten entstanden. Die multikulturelle Gesellschaft ist nicht mehr bloßes Schlagwort, sondern schlicht Realität.



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