Der traumatisierte Raum by Judith Kasper

Der traumatisierte Raum by Judith Kasper

Autor:Judith Kasper
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2016-04-15T00:00:00+00:00


6Die französische Nationalbibliothek und das Phantasma eines Lagers461

Auf dem Barackengelände befand sich, noch ehe die Nationalbibliothek gebaut wurde, eine Gedenktafel, die an die Internierung von Tausenden von Opfern des Nationalsozialismus erinnerte. Sie wurde während der Bauarbeiten entfernt, allerdings von mir noch 2002 als Kopie an einem Bauzaun gesichtet. Auf dieser Kopie stand geschrieben, dass die Stadt Paris nach Abschluss der Arbeiten die Plakette an geeigneter Stelle wieder anbringen würde. Dies ist, soweit ich es überblicke, bis heute nicht geschehen. Es wird vermutlich auch nicht mehr für nötig erachtet, nicht zuletzt weil die beiden französischen Historiker Jean-Marc Dreyfus und Sarah Gensburger die Bibliothek von solch unguter Infizierung inzwischen freigesprochen haben. In ihrer Abhandlung über die Pariser Lager schreiben sie mit Blick auf Sebald:

Sebald décrit le camp d’Austerlitz comme enseveli sous la nouvelle et pharaonique Bibliothèque nationale de France, ce qui est faux. La bibliothèque se trouve plus près de la gare d’Austerlitz, à plusieurs centaines de mètres de l’emplacement du camp. La description détaillée du camp est en total décalage avec la réalité dont elle veut témoigner.462

Dreyfus’ und Gensburgers Idee historischer Exaktheit immunisiert gegen einen Wahrheitsbegriff, der zu einem historiographischen Diskurs quer steht, nichtsdestoweniger aber die Geschichte direkt betrifft. Ihr Statement zeugt von einem grundlegenden Missverständnis des Sebaldschen Vorhabens. Denn es geht Sebald nicht um historische Exaktheit, sondern um die Ausfransung von Rändern an jenen Stellen, wo die Zeichen in andere übergreifen und bezüglich ihrer deiktischen Funktion ver-rücken.

In der Tat entspringt der literarische Satz in erster Linie keiner realistischen, räumlichen Überlagerung, sondern einer Reihe von vorgenommenen Verschiebungen und Verdichtungen. Er provoziert darüber hinaus eine weitere Verschiebung, und zwar in der Vorstellung der Leser, die mit der Geschichte der französischen Lager einigermaßen vertraut sind, denn neben das bekannte, nördlich von Paris gelegene Lager Drancy tritt nun ein weiteres, weitgehend unbekanntes Lager. Mit einem Mal rückt die Vorstellung vom Lager in den Kernbereich der Stadt Paris, intra muros.463

Was in Sebalds fiktionalem Satz – „Auf dem Ödland […] auf dem heute diese Bibliothek sich erhebt, war beispielsweise bis zum Kriegsende ein großes Lager […]“464 –, einem Satz, der in einem fiktionalen Text steht, darum aber noch kein fiktiver Satz ist, ausgesagt wird, geht auf einen nicht fiktionalen Text zurück, nämlich auf den Zeitungsartikel Die Türme des Schweigens, den der Journalist Alexander Smoltczyk im Winter 1997 im Zeitmagazin veröffentlicht hatte. Dort steht:

Vor einem Monat wurde mit großem Pomp die neue französische Nationalbibliothek eröffnet. Der Bauplatz sei Ödland gewesen, heißt es. In Wahrheit steht Europas größte Wissenssammlung an einem Ort der Barbarei: Schon 1943 wurden hier Bibliotheken aus jüdischem Privatbesitz konzentriert. Doch darüber spricht man nicht.465

Und weiter:

Im November 1943 eröffnete die SS auf dem Eisenbahngelände Tolbiac das Camp d’Austerlitz. Es war eine Nebenstelle des Konzentrationslagers Drancy im Pariser Nordosten. […] In unmittelbarer Nähe des heutigen Bibliotheksgeländes, am Quai de la Gare Nr. 43, wurde bis August 1944 von – im Nazijargon – Halb- oder mit Ariern verheirateten Juden Beutegut aus jüdischen Haushalten sortiert, um in die ausgebombten Städte des Reichs gebracht zu werden.466

Der gut recherchierte Zeitungsartikel hat kaum ein weiteres Echo erfahren.



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