Der innere Kompass by Lorenz Marti
Autor:Lorenz Marti [Marti, Lorenz]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 111-1-11-111111-1
Herausgeber: Verlag Herder GmbH
veröffentlicht: 2017-01-02T23:00:00+00:00
Jenseits des Gehirns
Wenn Sie Ihren Arm heben wollen, um nach etwas zu greifen, wird der Arm diese Bewegung auch ausführen. Ein selbstverständlicher und ganz natürlicher Vorgang. Aus der Nähe besehen geschieht allerdings etwas Bemerkenswertes: Ihre Absicht ist ja nicht mehr als ein Gedanke, eine geistige Wirklichkeit. Dieser Gedanke vermag aber Erstaunliches: Er bewirkt, dass Ihr Arm, der ein paar Kilogramm wiegt, sich entgegen der Schwerkraft hebt. Ihr Geist beeinflusst nachweisbar die Materie.
Umgekehrt beruht jeder geistige Vorgang auf materiellen Grundlagen. Sie können nur etwas vorhaben, wenn Sie auch in der Lage sind, sich das auch vorzustellen. Dafür brauchen Sie ein Gehirn. Ohne Gehirn kein Gedanke. Ohne Materie kein Geist.
Die entscheidende Frage lautet: Wie hängt beides zusammen?
Hippokrates, der berühmteste Arzt der Antike, versteht den Geist als Produkt des Gehirns. Etliche Hirnforscher sehen es heute ähnlich: Sie versuchen geistige Vorgänge mit den stofflich fassbaren Funktionen des Gehirns zu erklären. Ob Gedanken oder Gefühle, Wahrnehmungen oder Vorstellungen, dahinter steht dann nichts als Physik und Biochemie. Der Geist ist das Ergebnis molekularer Abläufe und entsteht im ausgeklügelten Zusammenspiel der Neuronen. Aus dem Homo sapiens wird ein Homo neurobiologicus.
Doch der Versuch, geistige Prozesse rein materiell zu erklären, wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Wie kommt es, dass aus einer riesigen Ansammlung von Zellen und Molekülen, die weder denken noch fühlen, Gedanken und Gefühle entstehen? Wie ist es möglich, dass geistige Inhalte lange im Gedächtnis erhalten bleiben, obwohl die Atome und Moleküle, welche das Gehirn konstituieren, laufend ausgewechselt werden und jeden Tag mehrere zehntausend Hirnzellen absterben? Die meisten Bausteine, die aktiv waren, als wir einst das Wort Baum gelernt haben, sind längst wieder verschwunden – doch die Erinnerung an das Wort Baum ist geblieben.
Addiert man alle physikalischen Eigenschaften der Atome, Moleküle und Zellen im Gehirn, entsteht jedenfalls noch kein einziger Gedanke und auch kein Gefühl. Nichts dergleichen. Und doch denken und fühlen wir. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Der Geist lässt sich nicht auf seine materiellen Bausteine beschränken. Er ist mehr als die Summe seiner Teile.
Und ich frage ganz naiv (vielleicht auch mit einem leisen Anflug von Empörung): Sind es allein meine Nervenzellen und Synapsen, welche sich diese Wörter und Sätze hier ausgedacht haben?
Ich gehe davon aus, dass dies nicht der Fall ist, ohne es beweisen zu können. Da muss noch etwas hinzukommen. Umgekehrt gehe ich auch davon aus, dass ich ohne Neuronen und Synapsen keinen einzigen Buchstaben schreiben könnte, was sich beweisen lässt. Und wenn ich die beiden Annahmen zusammenführe, komme ich zu der Vermutung, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen könnte.
»Ohne Gehirn ist alles nichts …«, heißt es in einem 2004 veröffentlichten Manifest führender deutscher Neurowissenschaftler – mit dem bemerkenswerten Zusatz: »… aber das Gehirn ist nicht alles«. Das bedeutet: Neuronen müssen in einer bestimmten Weise zusammenwirken, damit auf einer anderen Ebene eine Wahrnehmung, eine Empfindung oder ein Gedanke entstehen kann. Diese andere Ebene ist der Geist.
Der Psychosomatiker Joachim Bauer vergleicht die Beziehung zwischen Gehirn und Geist mit jener zwischen einem Klavier und der Musik, die darauf gespielt wird. Das Instrument ist offen für viele Möglichkeiten.
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