Aristipp und einige seiner Zeitgenossen by Wieland Christoph Martin

Aristipp und einige seiner Zeitgenossen by Wieland Christoph Martin

Autor:Wieland, Christoph Martin
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-02T16:00:00+00:00


Ich fange an sehr lebhaft zu fühlen, daß uns beim Eintritt in die männlichen Jahre, eine bestimmtere Art von Beschäftigung immer unentbehrlicher wird. Ohne gerad' eine förmliche Schule zu eröffnen und ein Aristophanisches Phrontisterion aus meinem Hause zu machen, bin ich entschlossen, nach dem Beispiel des Sokrates und in seiner Manier (sofern ich sie ohne Anmaßung und Nachäfferei zur meinigen machen kann) einen Theil meiner Zeit einigen fähigen Jünglingen, die sich zu mir halten wollen, zu widmen. Zu diesem Ende ist ein gegen den Garten offener Säulengang meines Hauses täglich etliche Stunden einem jeden geöffnet, der sich darin ergehen und an der kleinen Gesellschaft, die sich da zusammen zu finden pflegt, als Mitsprecher oder als bloßer Zuhörer Antheil nehmen will. Diese Galerie ist mit auserlesenen Gemälden geziert, und unter einigen Stücken von Polygnotus, Zeuxis, Pausias, Parrhasius und Timanthes, glänzen die trefflichen Copeien von deinem Tod des Sokrates und dem Ende des unglücklichen Kleombrotus so sehr hervor, daß sie gewöhnlich die Augen der hierher Kommenden zuerst auf sich ziehen und am längsten festhalten. Mitunter fallen auch ziemlich komische Dialogen vor, wie z.B. der folgende, den ich dir, weil er mir noch ganz frisch im Gedächtniß liegt, zur Kurzweil mittheilen will.

Ein edler junger Athener trat mit einem zierlich gekleideten fremden Jüngling Arm in Arm in die Galerie. Sie eilten mit flüchtigen Blicken von einem Bilde zum andern, und blieben endlich vor dem Tode des Sokrates stehen.

Kein unfeines Stück, sagte der Athener mit einer kalten Kennermiene.

Der Fremde. Was es wohl vorstellt?

Ich. Vermuthlich sich selbst.

Der Fremde. Wie meinst du das?

Ich. Um mich deutlicher zu erklären, es ist eine Art von Räthsel oder Hieroglyph.

Athener. Das nenn' ich sich deutlich erklären! Es gehört also ein Schlüssel dazu?

Ich. Er steckt im Gemälde.

Der Fremde. Wie kriegt man ihn aber heraus?

Ich. Jeder muß ihn selbst finden; darin liegt ja der Spaß bei allen Räthseln.

Der Athener. Wenn's der Mühe des Suchens werth ist.

Der Fremde. Ich wollte wetten, dieses hier stellt den Tod des Sokrates vor.

Ich. Ich auch; aber wenn du darauf wetten wolltest, warum fragtest du?

Der Fremde. Um meiner Sache gewiß zu seyn. Nun sehe ich wohl, je länger ich's betrachte, daß es nichts anders ist. Ich kenne die meisten dieser Männer von Person; sie sind zum Sprechen getroffen. Den alten Philosophen hab' ich freilich nicht mehr besuchen können, weil er schon lange todt war; aber man erkennt ihn auf den ersten Blick an seiner Silenengestalt, an der aufgestülpten Nase und an dem Giftbecher, den er so eben aus der Hand des Nachrichters empfangen hat.

Ich. Gut für mich, daß der Maler dieses Bildes uns nicht zuhört.

Der Fremde. Wie so, wenn man fragen darf?

Ich. Weil er seine Arbeit in den nächsten Ziegelofen werfen würde, wenn er dich so reden hörte.

Der Fremde. Ich dächte doch nicht daß ich etwas so Unrechtes gesagt hätte. Es verdrießt dich doch nicht, daß ich den Schlüssel zu deinem Räthsel so leicht gefunden habe?

Ich. Als ob man dir so was nicht auf den ersten Blick zutraute?

Der Fremde. Gar zu schmeichelhaft! Ich gebe mich für keinen Oedipus; aber das darf ich sagen, mir ist noch kein Räthsel vorgekommen, das ich nicht errathen hätte.



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