Anders (German Edition) by Steinhöfel Andreas

Autor:Steinhöfel, Andreas [Steinhöfel, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carlsen
veröffentlicht: 2014-10-19T22:00:00+00:00

»Er hat was getan?«, stieß Laura Wickert aus. Ihre Hände flogen über den auf der Pritsche ausgestreckten, halb nackten Kinderkörper, suchten, betasteten, drückten. Felix sah verheerend aus. Der linke Unterarm war mit einem Druckverband bereits provisorisch versorgt, aber die Vorstellung, er könne sich erneut am Kopf verletzt haben, versetzte sie fast in Panik.

Die Jungen, die Felix gebracht hatten, standen zu seinen Füßen. Der von den beiden, der Nisse hieß, zuckte die Achseln. »Geklettert. Und dann ist er runtergefallen.«

»Aus welcher Höhe?«

»Von ganz oben.«

»Das ist relativ. Wie hoch ist der Baum?«

»Es ist diese rote Buche. Die an der Lahn, der ganz alte Baum.

Ich weiß nicht. Dreißig Meter?«

Grundgütiger.

»Und Felix war ganz oben?«

»Jedenfalls so hoch oben, dass wir ihn nicht mehr sehen konnten.«

Laura ließ von Felix ab. Er war bei Bewusstsein, hatte aber noch keinen Ton gesagt. Er wirkte entspannt, aber das mochte der Schock sein. Immerhin folgten seine Augen jeder ihrer Bewegungen. Das war gut. Alles andere war … einfach nur Scheiße. Sie spürte Zorn in sich aufsteigen.

»Und ihr habt ihn da einfach raufklettern lassen?«, blaffte sie los. »Obwohl ihr wusstet, dass er sich letztes Jahr schwerste Kopfverletzungen zugezogen hatte? Verletzungen, die höchstwahrscheinlich zu seinem Gedächtnisverlust geführt haben und von denen wir bis jetzt noch nicht wissen, ob sie überhaupt schon alle verheilt sind?«

Nisse schaute betreten unter sich, jedenfalls sollte es wohl betreten wirken. Laura mochte ihn nicht. Die Augen des anderen Jungen, der sich als Ben vorgestellt hatte, glänzten verdächtig.

»Er war aber total fit, als er unten ankam«, sagte Nisse trotzig.

»Was meinst du mit fit?«, fuhr Laura ihn an. »Habt ihr gleich noch ein Fußballspiel drangehängt?«

»Wir haben –«

»Wie konntet ihr das zulassen?« Jetzt kochte ihr Zorn über, und etwas in ihr wollte ihn auch gar nicht eindämmen. »Seid ihr völlig bescheuert oder verblödet? Braucht ihr ’ne App, die eure Köpfe aus euren Ärschen zieht? Mann, Mann, Mann!«

»Es war meine Idee«, wandte Felix von der Pritsche aus ein.

»Eine Idee, junger Mann, setzt Spuren von Intelligenz voraus!«, schnappte Laura in seine Richtung. »Du hattest einfach nur einen beschissen dämlichen Einfall!«

Ben starrte sie ungläubig an. Sein Kinn zitterte. Der Glanz in seinen Augen stand kurz vorm Überschwappen. Gut möglich, dass sie die erste Erwachsene war, die er je bewusst Schimpfworte an Kinder adressieren hörte.

Es sind Kinder. Du musst dich abregen. Dein Geschrei ist nicht hilfreich. Schalt einen Gang runter. Besser zwei.

Sie straffte die Schultern und zwang sich dazu, langsam und tief durchzuatmen. »Okay, Männer. Bitte entschuldigt meinen Wutausbruch, aber … Als Felix letztes Jahr bei mir gelandet ist, hab ich mir solche Sorgen um ihn gemacht. Und ihr wisst, dass er noch nicht vollständig geheilt ist. Ich habe überreagiert. Das tut mir leid, ich bitte euch dafür um Entschuldigung. Okay?«

Zwei Jungenköpfe nickten.

»Gut«, sagte sie erleichtert. »Dann bitte ich euch jetzt um noch etwas, nämlich zu verschwinden, damit ich mir Felix gründlicher vornehmen kann. Verschwinden bedeutet, dass ihr euch vorn an der Rezeption meldet und von dort aus eure Eltern anrufen lasst. Ihr verlasst auf keinen Fall allein dieses Gebäude. Ihr könntet unter Schock stehen und Blödsinn veranstalten, und ich hab keine Lust, euch aus dem Profil eines LKW-Reifens zu kratzen.

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