alphabet: Angst oder Liebe (German Edition) by Wagenhofer Erwin & Kriechbaum Sabine & Stern André

Autor:Wagenhofer, Erwin & Kriechbaum, Sabine & Stern, André [Wagenhofer, Erwin]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783711050953
Herausgeber: Ecowin Verlag
veröffentlicht: 2013-09-29T22:00:00+00:00

Mitte Dezember 2011

Zum Geburtstag bekommt Antonin von Maman ein kleines Holz-Fahrrad. Es ist eines ohne Pedale, das uns mehr überzeugt hat als eines mit kleinen Stützrädern.

Er aber sieht es anders als erwartet. Auf dem Rad sitzen und mit beiden Füßen fahren zieht ihn überhaupt nicht an. Er möchte das Fahrzeug umgekehrt haben, auf Sattel und Lenkstange gestellt, mit den sehr schönen Reifen nach oben. So lassen sich die Räder frei drehen, und das ist genau, was er möchte. Mit lautem Motorengeräusch dabei.

Einen Teil der Weihnachtszeit verbringen wir bei Paulines Eltern in der Bretagne. Auch hier herrschen erstaunlich milde Temperaturen. Wir gehen oft an den Strand. Dort spielt er lange mit Muscheln und Steinen. Er sitzt und macht ganz systematisch kleine Haufen. Dann wirft er die angesammelten Stücke wieder weg und macht neue Haufen.

Wo Antonin im Haus ist, hören wir immer am fortwährenden Motorengeräusch, das er summt. Wir haben drei Haupttypen von Motorengeräuschen erkannt: Gegenstände, die er als Fahrzeuge schiebt, sind eindeutig. Bei Gegenständen, die er dreht, gibt es eine Unterscheidung: diejenigen, die er wie eine Kurbel in verschiedenen Geschwindigkeiten spult, haben mit der Waschmaschine zu tun. Gegenstände, die er auf ihrer Achse dreht und dabei bewegt, sind mit dem Staubsaugerroboter verbunden. Er geht damit auch ganz zart an die Wände und an Hindernisse heran, wendet und schiebt sie bis zum nächsten Rand.

Januar 2012

Jeden Tag will Antonin am Abend auf die Straße gehen und den Müllwagen sehen. Wir laufen dem Fahrzeug Schritt für Schritt nach. Er beobachtet ganz genau, wie die Müllmänner die grünen Tonnen anbringen und welcher Mechanismus diese dann nach oben zieht und kopfunter in den Lastwagen kippt. Antonin entgeht keine einzige Handlung, er ist hochkonzentriert.

In unserem Quartier ist er ein Highlight für die Müllmänner. Sie kennen ihn alle, winken von weitem schon, fragen immer: „Ça va?“, und machen für ihn ihre Arbeit mit besonderer Geschicklichkeit. Wir können am Abend gar nicht mehr auf die Straße gehen, ohne dass jeder Fahrer von jedem Müllwagen freudig hupt und grüßt, sobald sich Antonin blicken lässt. Er lacht. Ich merke jedes Mal, dass er dabei zwei Erfahrungen macht. Die erste ist eine wahre Sozialisation. Er erlebt diese Männer und sie ihn, ohne an irgendwelche sozialen Kriterien zu denken. Sie freuen sich gemeinsam. Die zweite Erfahrung ist, dass Antonin und diese Männer in gegenseitiger Wertschätzung aufeinander zugehen, ohne sich Fragen zu stellen. Antonin bleibt die vernichtende Hierarchie zwischen den Berufen erspart. Er wird nie den Beruf eines Müllarbeiters geringschätzen, er wird nie denken, dass Arzt oder Anwalt besser sind, dass es „gute“ und „schlechte“ Berufe gibt, dass es welche gibt, die einem einen besseren Stand im Leben ermöglichen oder ein Zeichen von brillanterer Karriere sind.

Wie anders wäre es auf Erden, wenn alle Berufe als schätzenswert betrachtet würden! Es könnte sich jeder als unentbehrlich fühlen, jeder dürfte seine Arbeit in ehrlicher Begeisterung und in stolzer Kompetenz ausüben, und die Vernetzung zwischen den Berufen und Kompetenzen wäre lebendig, weil jeder seine für die Gesellschaft wichtige Rolle spielte, seinen nützlichen Platz im Ganzen hätte, ohne sich als weniger wichtig und erfolgreich zu betrachten, weil er Müllarbeiter ist und nicht Architekt.

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